Das ideale Portrait-Objektiv: Wir stellen 6 Modelle vor

Portraits stellen nicht nur an die fotografierte Person besondere Ansprüche, für ein perfektes Ergebnis muss auch der Fotograf einiges beachten. Eine der wichtigsten Entscheidungen betrifft dabei die gewählte Brennweite. Wir stellen Ihnen sechs ideale Portrait-Objektive vor.

Sebastian Sonntag

Sebastian Sonntag

Freier Journalist und Fotograf

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Foto: © Sebastian Sonntag

Seit den Anfangszeiten nehmen Portraits in der Fotografie eine ganz besondere Position ein. Sie reflektieren das, was wir täglich sehen: Menschen. Ob freundlich, lasziv, traurig, glücklich oder cool, jede Portrait-Aufnahme verströmt einen ganz besonderen Reiz. Ein Moment, eine Stimmung, eine Reaktion, festgehalten für die Ewigkeit. Für den Fotografen bringen ambitioniert erstellte Portraits einige große Herausforderungen mit sich.

Natürlich haben Sie Recht, wenn Sie nun an Drittelregel, Schärfe auf den Augen und ähnliche technische Merkmale denken, aber gehen Sie einen Schritt weiter. Bei einem guten Portrait kommt es vor allem auf die Emotionalität an. Um diese perfekt einzufangen, ist das richtige Objektiv eine wichtige Grundvoraussetzung. Die Optik entscheidet über die Trennung zwischen Person und Hintergrund, den Schärfeverlauf, das Bokeh im Hintergrund und zu guter Letzt auch über den physischen Abstand zwischen Fotograf und Modell.

Gerade der letztgenannte Punkt wird dabei häufig unterbewertet. Dringe ich in die Intimsphäre des Portraitierten ein oder bin ich so weit entfernt, dass der Kontakt förmlich abreißt? Wir haben sechs Objektivtypen für Sie zusammengestellt, die Sie unterstützen, in jeder Situation das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.

​Telezoom 70-200 mm

Das klassische Telezoom mit einer Brennweite von 70-200 mm findet sich in den Fototaschen von Sport-Experten ebenso wie bei Mode- oder Architektur-Fotografen. Auch für Portraits eignet sich das Tele optimal, besonders in der lichtstarken Variante mit Offenblende f/2,8. Die Vorteile des 70-200 mm liegen auf der Hand: Die Abbildungsleistung ist hervorragend, durch den Zoom bleibt man flexibel und die große Offenblende stellt das Hauptmotiv vom Hintergrund frei.

Schaut man sich diese drei Punkte im Detail an, werden die Einsatzmöglichkeiten des 70-200 mm noch klarer: Die hohe Auflösung und der sehr schnelle und präzise Autofokus ermöglichen selbst bei bewegten Nahaufnahmen des Oberkörpers eine große Blende, ohne Kompromisse bei der Schärfe eingehen zu müssen.

So können Sie gehende, laufende, springende Personen ebenso ablichten wie lachende Trauzeugen bei einer Hochzeitsgesellschaft oder spielende Kinder. Verwenden Sie bei bewegten Aufnahmen den kontinuierlichen Autofokus und wählen Sie bewusst einen etwas größeren Bildausschnitt, um bei einer unerwarteten Bewegung nicht einen Teil des Hauptmotivs zu verlieren.

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Telezooms sind bei Portrait- und Mode-Aufnahmen vor allem aufgrund ihrer Flexibilität sehr beliebt. Von Close-Ups bis zu Oberkörperaufnahmen im Querformat lässt sich damit alles aufnehmen, ohne die Position ändern zu müssen.

Foto: © Sebastian Sonntag

Aktuelle Versionen mit eingebautem Bildstabilisator erweitern den Spielraum und erhöhen die Chance auf unverwackelte Bilder. Das Zoom hilft Ihnen vor allem im unwegsamen Gelände und sobald es schnell gehen muss. So wünschen Kunden bei professionellen Modeproduktionen häufig Oberkörper-Aufnahmen und Close-Ups eines Motivs ebenso wie Ganzkörper-Shots. Mit einem Telezoom lichten Sie im besten Fall alle drei Varianten hintereinander ab, ohne sich auch nur einen Schritt bewegen zu müssen. Auch die mit dem Wechsel vom Hoch- zum Querformat oft einhergehende Brennweitenveränderung ist kein Problem.

Die lichtstarke Offenblende ist ebenfalls ein Vorteil des 2,8/70-200-mm-Objektivs. Gerade bei langen Brennweiten genügt die Blende f/2,8, um bereits den Bereich kurz hinter dem Kopf der Portraitierten in der Unschärfe verschwimmen zu lassen. Natürlich erreicht das Zoom nicht die Blendenwerte einer Festbrennweite, in der Praxis zeigt sich allerdings, dass gerade bei Close-Ups eines Gesichts häufig eher etwas abgeblendet werden muss, als dass man sich eine noch größere Blende wünschen würde.

Festbrennweite 85 mm

Für Oberkörper- und Gesicht-Close-Ups eignet sich eine lichtstarke 85-mm-Festbrennweite so gut wie fast keine andere Optik. Üblicherweise gibt es diese Objektive in Varianten mit Offenblende f/1,4 oder f/1,8. In den allermeisten Fällen genügt die meist deutlich günstigere Variante mit f/1,8.

Die größten Stärken dieser Festbrennweite liegen in der sehr hohen Bildqualität und der für Portraits perfekten Brennweite. Der Hintergrund wird beim 85 mm weniger gestaucht als bei längeren Brennweiten, insgesamt wirkt das Bild etwas weicher und harmonischer. Zudem ergibt sich mit dieser Brennweite sowohl bei Oberkörper- als auch Gesicht-Aufnahmen eine sehr gute Entfernung zwischen Fotografen und Model. Man steht sich nahe, kann problemlos miteinander kommunizieren und die Stimmungen des Anderen erfühlen, ohne dass Sie bei Nahaufnahmen in die Intimsphäre eindringen müssten. Diese Vorteile gehen einher mit einer sehr guten Bildqualität, wie sie für Festbrennweiten generell typisch ist.

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Bei Portrait-Fotografen besonders beliebt sind lichtstarke Festbrennweiten. 85 mm ermöglichen tolle Gesicht- und Oberkörper-Aufnahmen.

Foto: © Sebastian Sonntag

Da im Gegensatz zum Zoom keine Kompromisse eingegangen werden, fallen Objektivfehler häufig geringer aus und die Auflösung ist sehr hoch. Auf der Negativseite steht eine meist deutlich sichtbare Vignettierung bei sehr großen Offenblenden, die jedoch den Charakter eines Portraits noch unterstreichen kann, zudem agiert der Autofokus meist langsamer als bei einem Sport-Zoom 70-200 mm.

Die eigentliche Besonderheit, die sehr große Offenblende, spielt bei vielen Aufnahmen eine eher untergeordnete Rolle. Wer Ganzkörper- oder auch Oberkörper-Aufnahmen unter beengten Bedingungen macht, freut sich über die Möglichkeit, die Person mit Blende f/1,8 noch vom nahen Hintergrund trennen zu können; bei weitläufigeren Locations, im Studio und bei Nahaufnahmen wird dagegen in der Regel eher etwas abgeblendet, um den zweiten Vorteil der großen Offenblende zu nutzen: die höhere Schärfe bei leicht geschlossener, der idealen Blende. An einen Vollformat-Body montiert erinnert der Stil eines 85ers stark ans Mittelformat, weshalb sich die Optik auch gut für charakterstarke Schwarzweiß-Aufnahmen oder auch ein Zurechtschneiden ins 4:3-Format eignet.

Festbrennweite 50 mm

Die Vorteile einer lichtstarken 50-mm-Festbrennweite entsprechen in weiten Teilen denen des 85ers. Besonders interessant ist die Optik für Fotografen mit APS-C-Body. Durch den Crop-Faktor ergibt sich je nach Hersteller aus den 50 mm eine effektive Brennweite von 75 mm oder 80 mm – inklusive der bereits beim 85 mm genannten Vorteile. Doch auch für Vollformat-Fotografen lohnt sich die Anschaffung eines 1,4/50 mm.

Zum einen sind die Optiken recht günstig, zum anderen eignet sich diese klassische Brennweite sehr gut für Oberkörper- und Ganzkörper-Aufnahmen. Durch den im Vergleich zum 85 mm größeren Weitwinkel bekommen Sie mit einem 50 mm mehr Hintergrund aufs Bild, was besonders bei Aufnahmen on Location und bei der Straßenfotografie ein immenser Vorteil sein kann.

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50-mm-Festbrennweiten sind bezahlbar und vielseitig einsetzbar. Mit genügend Abstand eignen sie sich selbst für detailreiche Ganzkörper-Aufnahmen.

Foto: © Sebastian Sonntag

Darüber hinaus gibt es einen weiteren Aspekt, der für das 50 mm spricht: Diese Brennweite entspricht in etwa der menschlichen Sichtweise, wodurch uns Aufnahmen eines 50-mm-Objektivs besonders natürlich vorkommen. Wie beim 85 mm werden auch beim 50 mm Varianten mit Lichtstärke f/1,4 und f/1,8 angeboten. Aufgrund der kürzeren Brennweite ist die Schärfentiefe beim 50 mm etwas höher, weshalb Sie zum Modell mit f/1,4 greifen sollten, um sich alle Möglichkeiten beim Schärfeverlauf offenzuhalten.

Makro 100/105 mm

Echte Makro-Objektive bestechen mit ihrem Abbildungsmaßstab von 1:1, einer entsprechend hohen Qualität bei extremen Nahaufnahmen und ihrer insgesamt sehr hohen Schärfeleistung. Bezogen auf Portraits eignen sie sich deshalb besonders gut für Close-Ups von Gesicht oder auch einzelnen Gesichtspartien wie Mund oder Augen. Dies gilt für kommerzielle und künstlerische Beauty-Aufnahmen ebenso wie für charakterstarke Portraits, bei denen Details von Lachfalten um die Augen, ein eindrucksvoller Bart oder Tattoos den Eindruck von der Person weiter vertiefen können.

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Um die Brillanz einer Aufnahme voll zur Geltung zu bringen, benötigen Sie ein Objektiv mit maximaler Auflösung. Für Portraits eignen sich hierfür Makro-Objektive mit leichter Telebrennweite.

Foto: © Sebastian Sonntag

Auch Nahaufnahmen von Händen können eine Portrait-Serie ausdrucksstark ergänzen. Makro-Objektive gibt es in Brennweiten von beispielsweise 50 mm über 90, 100 oder 105 mm bis hin zu 180 mm. Für Portraits eignen sich vor allem die mittleren Varianten mit Brennweiten zwischen 90 und 105 mm. Sie bieten ähnliche Vorteile wie das 85 mm: Bei Oberkörper- und Gesichtsaufnahmen hat der Fotograf eine gute Distanz zum Modell, das Bild wirkt nicht so hart wie bei einer echten, längeren Tele-Brennweite und stellt den Portraitierten dennoch deutlich in den Vordergrund.

Standardzoom 24-70 mm

​Wenn in einer engen Location der Platz ausgeht, hat man als Fotograf ein Problem. Sie können nun entweder das Modell fotografisch anschneiden, sich ins hinterste Eck quetschen oder den gesamten Bildaufbau neu überdenken. In diesen Momenten ist ein Standardzoom die optimale Lösung. Es findet sich in der einen oder anderen Variante in fast jeder Fototasche und eignet sich trotz der vergleichsweise kurzen Brennweite in vielen Situationen hervorragend für Portraits. Auf der langen Seite grenzt die Brennweite an das 70-200 mm und ist auch vom 85er nicht weit entfernt, weitwinkeliger eingesetzt deckt es die Vorteile des 50 mm ab und baut einige von dessen Vorzügen bei kürzeren Brennweiten sogar noch weiter aus.

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Bei Innenaufnahmen geht es häufig sehr eng zu. Ein 24-70 mm Standardzoom ermöglicht hier Bilder, auf denen neben dem Portraitierten auch noch Platz für das Ambiente bleibt.

Foto: © Sebastian Sonntag

Speziell in der Straßenfotografie oder bei Aufnahmen in opulenten oder auch engen Innenräumen hilft der weitere Winkel, mehr aufs Bild zu bekommen. Aufgrund der geringeren Schärfentiefe und der insgesamt höheren Bildqualität ist ein lichtstarkes Modell mit Offenblende f/2,8 einem Kit-Objektiv hier in jedem Falle vorzuziehen. Achten Sie bei Ihren Aufnahmen auch gezielt auf die Verzeichnung. Wirkt die Person im Bild noch natürlich? Werden gerade Linien am Bildrand stark gebogen? Dann lohnt es sich vielleicht, sofern möglich, noch ein paar Schritte zurückzugehen und eine etwas längere Brennweite zu verwenden.

Im Gegensatz zum 70-200 mm ist ein argloser Wechsel zwischen den verschiedenen Brennweiten aufgrund der starken Bildveränderungen im Weitwinkel-Bereich generell nicht zu empfehlen. Wer möchte, kann die Verzeichnung bei 24 mm bewusst als Effekt nutzen; in vielen Fällen geht dadurch jedoch die eigentliche Intention eines Portraits, ausdrucksstarke Emotionen einzufangen, verloren.

​Lensbaby

Wer sich ganz bewusst mit kreativen Portrait-Ansätzen auseinandersetzen möchte, sollte über die Anschaffung eines Lensbabys nachdenken: Mittlerweile steht dieser Name nicht mehr nur für ein Produkt, sondern für eine ganze Reihe an Objektiven, die verschiedenste Effekte erzielen. Für Portraits besonders interessant sind Modelle mit Tilt-Shift-Funktion. Dadurch lässt sich die Schärfeebene verschieben und beispielsweise der untere Körperbereich unscharf abbilden, das Gesicht dagegen scharf.

Durch diesen Effekt wird die Aufmerksamkeit des Betrachters noch stärker auf einen bestimmten Bildbereich gelenkt, gleichzeitig wirkt die Aufnahme weicher und künstlerischer. Ein Nachteil von Lensbaby-­Modellen ist der fehlende Autofokus, was gerade bei schiefen Schärfeebenen zu einem recht hohen Bildausschuss führt. Wer sich ein wenig mit der Optik beschäftigt, bekommt aber zum einen schnell ein Gespür für den richtigen Schärfepunkt und wird zum anderen bald feststellen, dass eine perfekte Schärfe ohnehin nicht Sinn und Zweck einer Kreativlinse ist.

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Lensbabys sind bei Fotografen verschiedenster Genres sehr beliebt. Das Spiel mit dem Schärfe-Spot erzeugt tolle Effekte und bietet die Chance, Wichtiges im Bild besonders hervorzuheben.

Foto: © Dana Leigh

Eine praktische und kostenlose Alternative zum Lensbaby ist das Fotografieren mit abgeschraubtem Objektiv, bekannt als Free-Lensing. Dazu lösen Sie das Objektiv von der Kamera und halten es dicht vor dem Gehäuse leicht schräg. Durch den Winkel verändert sich die Schärfeebene wie bei einem Tilt-Shift-Objektiv. Allerdings müssen Sie manuell fokussieren. Bei Nikon-Modellen muss außerdem am Objektiv der Blendenhebel mit einem Stück Klebeband auf Offenblende fixiert werden, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Verwenden Sie lieber eine Festbrennweite, denn bei gleichzeitigem Halten des Objektivs und Drehen am Fokussierring wird es schwierig, auch noch die Brennweite zu korrigieren.

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Dieser Artikel ist in unserer Ausgabe fotoMAGAZIN 06/2017 erschienen.

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