Interview: Tom Seymour
Der Brite Simon Roberts ist ein Fotograf, der seit Jahren in seinen Projekten erkundet, wie die Briten versuchen, ein Gefühl der Zugehörigkeit und einer Gemeinschaft mit gleichen Zielen zu schaffen. Ihn beschäftigt, wie sich ein eigenständiger nationaler Charakter formt.
In seiner neuen Arbeit, „Brexshit Times“, spürt Roberts hingegen der stark spaltenden, chaotischen und zuweilen ziemlich hässlichen nationalen Stimmung nach, die die Brexit-Verhandlungen mit der Europäischen Gemeinschaft über Jahre begleitet hat – ein Projekt, das sich zuweilen wie das Zersplittern der britischen Identität anfühlte. In unserem Interview im Frühjahr 2021 berichtet er, wie er selbst von den Brexit-Folgen direkt betroffen ist.
fotoMAGAZIN: Hatte der Brexit bereits Auswirkungen auf Ihren Berufsalltag?
Simon Roberts: Ich habe vor Kurzem ein zweijähriges Stipendium an einer belgischen Akademie der Künste erhalten, das sich durch den Brexit viel komplizierter gestaltet – noch ist unklar, ob ich überhaupt antreten kann. Das macht mir deutlich klar, was der Brexit tatsächlich bedeutet. Bis jetzt haben wir nur darüber geredet. In den letzten sechs Wochen sind die Details des Brexit für viele erst offensichtlich geworden.
“Es frustriert mich, dass es nicht gelungen ist, zu erklären, was der Brexit aus britischer Sicht bedeutet.“
fotoMAGAZIN: Ihr neuestes Werk trägt den Titel „Brexshit Times“ – welcher Moment des Brexit-Prozesses hat Sie zu dieser Serie angeregt?
Simon Roberts: „Brexshit Times“ ist Teil einer größeren Arbeit über den Brexit, deren Ausgangspunkt ein Bild war – das letzte Foto meines Buches „Merrie Albion“, das 2017 erschienen ist. Das Foto habe ich an dem Tag aufgenommen, als wir Artikel 50 (zu Großbritanniens EU-Austritt) unterzeichneten.
Es zeigt eine Gruppe von Menschen am Rande der weißen Klippen von Dover, in einer Landschaft, die seit dem Zweiten Weltkrieg als Inbegriff des Britischen identifiziert wurde. Das war ein Bild, das von den Brexit-Befürwortern aufgegriffen wurde; der Gedanke, unser Land zurückzuerobern. Was das Bild für mich zeigt, ist dieses Gefühl, an einem Abgrund zu stehen.
fotoMAGAZIN: Ihre Serie schafft es, die Stadien und unterschiedlichen Perspektiven eines Prozesses zu erfassen, der sich oft quälend und chaotisch angefühlt hat.
Simon Roberts: Ich habe versucht, die gesamte Übergangszeit seit dem britischen Referendum zu erfassen. Das bedeutete vor allem, Wörter und Sätze zu sammeln, die sich darauf beziehen, wie der Prozess in der Presse und von den Politikern in Großbritannien und der EU diskutiert wurde. Ich wollte etwas schaffen, was das Verbale visualisiert.
Das war die Herausforderung, denn eigentlich gibt es rund um den Brexit nicht viel zu fotografieren. Hier ging es um Sprache. Ich denke, das ist eine der wichtigsten Lehren aus dem Brexit – die Macht der Sprache. Die Argumente der Brexit-Gegner waren nicht überzeugend genug, auch weil diese nicht gut verbalisiert wurden. „Take Back Control“ ist hingegen ein erstaunlicher Marketing-Slogan. Das ist eine Phrase, die für jeden unglaublich leicht verständlich ist. Ich wollte einen Weg finden, ihn visuell einzufangen.
fotoMAGAZIN: Was haben Sie durch „Brexshit Times“ über den Brexit bzw. Großbritannien gelernt?
Simon Roberts: Zweifellos hat auch das Lager der Brexit-Gegner (zu dem ich mich zähle) einen Teil des Versagens selbst zu verantworten. Es frustriert mich, dass es nicht gelungen ist, zu erklären, was der Brexit aus britischer Sicht bedeutet. Die Argumente wurden nicht gut vorgetragen.
Als Fotograf, der im Laufe des letzten Jahrzehnts in Großbritannien gearbeitet hat, merke ich, dass ich bereits davor versagt habe. Ich wurde vom Brexit überrumpelt. Obwohl ich viel Zeit in einigen der Gemeinden verbracht habe, die für den Brexit gestimmt haben, war ich überrascht, wie wütend diese Menschen waren – bis zu der Konsequenz, dass sie für den Austritt aus der EU stimmten.
fotoMAGAZIN: Denken Sie, die Kunstszene hätte mehr tun sollen, um die Sorgen der Menschen zu verstehen, die den Brexit unterstützt haben?
Simon Roberts: Das hatte sicher auch einen Anteil. Wir alle glauben, dass wir nicht in einer Blase arbeiten, dass wir Gemeinschaften verstehen, die anders sind als unsere. Ich denke jedoch, dass sich etwas ändern muss – wenn es darum geht, wer in der Kunst repräsentiert wird, wohin das Geld fließt. Ich finde, der Brexit hat ein Licht auf Teile der Branche geworfen, die sich verändern müssen.
fotoMAGAZIN: Können Sie verstehen, warum manche Menschen für den Austritt aus der EU gestimmt haben?
Simon Roberts: Ich habe wirklich versucht, die Argumente der Brexit-Befürworter zu verstehen. Bei einem Festival in Großbritannien habe ich ein Panel einberufen, in dem auch Künstler saßen, die den Brexit für eine gute Sache halten. Ehrlich gesagt konnte ich keine Argumente finden, die mich überzeugt hätten.
Zur Website des Fotografen:
> https://www.simoncroberts.com
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