Mitten in der Lockdown-Phase der Corona-Pandemie bereiste der Pforzheimer Fotokünstler Julian Kirschler Europas Kulturmetropolen. Und fotografierte dort dystopische, menschenleere Orte, denen das touristische Klischee des „Sehenswürdigen“ abhanden gekommen scheint. Anschließend implementierte er den Aufnahmen einen „Foto-Virus“ – verfremdete die Aufnahmen seines „High Noon“-Projektes und entwickelte daraus schließlich komplexe, multi-sensorische Bildpräsentationen mit eigens komponiertem Soundscape und taktilen Erlebnisschüben im immersiven Raum.
High Noon Hamburg
fotoMAGAZIN: Unsere Wahrnehmung assoziiert bereits automatisch etwas bei der Nennung eines Stadtnamens. Sie arbeiten bei dieser Serie auch gegen die Klischees an.
Julian Kirschler: Absolut. Ich hatte 2019 ein einschneidendes Erlebnis am Schloss Neuschwanstein. Dort merkte ich, dass die Mehrzahl der Touristen aus Asien und Osteuropa mit dem Rücken zum Schloss standen und Selfies fotografierten. Es ging ihnen nicht um das Erfahren eines Ortes, sondern um den Beweis, dass sie dort waren.
„Wir haben ein wenig den Kontakt zu uns selbst verloren.“
Julian Kirschler, Fotokünstler
fotoMAGAZIN: Die Auswahl Ihrer Aufnahmeorte ist eine Reaktion auf diese Erfahrung?
Julian Kirschler: Auf jeden Fall. Ich bin bewusst nach Florenz und Venedig gereist – an Orte, die sonst vom Tourismus überflutet sind. Die leeren Orte in meinen Bildern bieten Raum für viel mehr Auseinandersetzungen als nur über das Thema Corona. Es geht um soziale und geschichtliche Themen, um Städtebau, Umwelt und Verkehr. Diese menschenleeren Orte legen die Sicht frei für eine Auseinandersetzung damit.
fotoMAGAZIN: Haben wir den Kontakt zur Stadt verloren, nutzen wir sie nur noch als Transitzone?
Julian Kirschler: Nicht nur das. Wir haben auch ein wenig den Kontakt zu uns selbst verloren. Das ist der Grund, warum ich meinen Fotografien Klanglandschaften hinzufüge. Über diese Verbindung kommen meine Fotografien schnell in Kontakt mit dem Betrachter und dieser wiederum mit sich selbst.
Julian Kirschlers „High Noon“
fotoMAGAZIN: Bei der Betrachtung spiegeln wir ein Bild an unseren Erfahrungen und Empfindungen. Klang gibt eine zusätzliche Stimmung vor. Warum machen Sie das?
Julian Kirschler: Wir machen das so, dass der Sound jedem Besucher individuell auf einen Kopfhörer gestreamt wird, damit er ganz bei sich ist. Es geht nicht darum, diese Erfahrung in dem Moment mit anderen zu teilen, sondern darum, ihn abzuschotten. Er soll sich mit sich auseinandersetzen. Dem fügen wir noch eine dritte Ebene hinzu: das Haptische. Wir geben dem Besucher einen Rucksack, der Niederfrequenztöne am Körper zum Vibrieren bringt. Das macht etwas mit ihm. Es weckt in ihm sehr persönliche Dinge. Deswegen gehe ich für die High Noon-Serie an Orte, von denen ich erwarten kann, dass sie sonst von vielen Menschen besucht worden sind. Zum Beispiel zum Checkpoint Charlie in Berlin.
High Noon Berlin
fotoMAGAZIN: Wie entwickeln Sie das Moodboard mit passendem Sound und dem taktilen Erlebnis zum Bild?
Julian Kirschler: Ich arbeite mit zwei Musikern: Mathias Freimann und Stefan Kling. Ihnen schicke ich eine Arbeit und übermittle dazu Attribute, die mir wichtig sind. Daraus entwickeln sie Soundscapes. Das Taktile entsteht durch die Auswahl der Töne. Das ist, als wären Sie in einem Club, in dem die Bässe etwas mit Ihnen machen.
fotoMAGAZIN: Was bleibt für Sie als Essenz des High Noon-Projektes?
Julian Kirschler: Der Kern der Arbeit ist, dass durch das Implementieren des Viruses etwas völlig Neues entstanden ist, das es in der Fotografie noch nicht gab. So kann ich innerhalb eines Bildes neue inhaltliche Verknüpfungen herstellen.
fotoMAGAZIN: In Ihren Ausstellungen tauchen die Besucher in Bildräume ein. Warum passen derlei immersive Wahrnehmungs-Events gerade in diese Zeit?
Julian Kirschler: Weil wir reizüberflutet und von vielem so weit entfernt sind. Oft hatte ich in Museen das Gefühl, ich bräuchte einen Kunsttheoretiker, der mir erklärt, was ich sehe. Der Kunstbetrieb ist sperrig und erschließt sich nicht immer. Deswegen ist mein Ansatz, auch Menschen, die keine Affinität mitbringen, für Kunst zu interessieren. Dafür schaffen wir einen barrierefreien Zugang über das Hören, Fühlen und Sehen. Viele junge Leute sind zudem heute über Computerspiele bereits an das Thema Immersivität gewöhnt.
Prototyp einer immersiven Ausstellung
> Website zu Julian Kirschlers neuen Projekt
Beitrage Teilen