Im April 2011 ist der österreichisch-südafrikanische Fotojournalist Anton Hammerl im libyschen Bürgerkrieg von Gaddafis Regierungstruppen entführt und ermordet worden. Frustriert durch die schleppende Aufklärung der Straftat und Suche nach dem Toten machte sich Edgar Martins, ein enger Freund des Verstorbenen, 2022 auf den Weg.
„Our War“: Edgar Martins' fiktives Selbstporträt seines Freundes
Der portugiesische Fotokünstler begann, an einer Bildgeschichte zu arbeiten, zu der sich keine Zeugen, keine Beweisstücke und nicht einmal das Opfer fanden. In seinem Projekt „Our War“ konstruiert Martins nun ein fiktives Selbstporträt Hammerls, in dem er dessen Reiseweg durch Libyen folgt, Menschen porträtiert, die auch dieser fotografiert hatte oder die ihn an seinen Kumpel erinnerten. So ist eine Geschichte über die Schwierigkeit des Dokumentierens und Erinnerns entstanden, der Versuch einer Annäherung in Bildern des Unabbildbaren.
Zwölf Jahre nach dem Tod von Anton Hammerl ist Edgar Martins im April 2023 mit seiner Hommage an den verlorenen Freund in London als Sony World Photographer of the Year 2023 ausgezeichnet worden.
fotoMAGAZIN: Wie haben Sie die Bilder für dieses schwierige Sujet zusammengestellt?
Edgar Martins: Es ist eine Geschichte, die sich schwer erzählen lässt und uns sehr nahe geht. Dabei geht es um Verlust, um ein Trauma und das Verschwinden eines Menschen. Es gab also drei Herausforderungen für mich: Wie erzähle ich eine Geschichte, die andere mitnimmt? Zweitens: Wie erzählte ich sie, ohne in die gleiche Falle zu tappen wie gelegentlich Fotojournalisten und die Dokumentarfotografen in Krisengebieten? Und nicht zuletzt: Wie erzähle ich eine Geschichte, bei der nichts von all dem da ist, das ich benötige.
fotoMAGAZIN: Haben Sie also zuerst das passende Konzept dafür entwickelt?
Edgar Martins: Zunächst wollte ich etwas über das Verschwinden meines Freundes herausfinden. Ich fragte bei der britischen Regierung, der österreichischen, der südafrikanischen und sogar bei der libyschen Regierung nach und bekam keine Antworten. Ich setzte mich auch mit den Vereinten Nationen in Verbindung. Schließlich reiste ich total frustriert selbst nach Libyen, um besser zu verstehen, was dort passiert sein könnte. Während der ersten eineinhalb Jahre machte ich kein einziges Foto. Ich versuchte, Kontakte aufzubauen und die Situation vor Ort zu verstehen. Dabei wurde mir klar, dass es ein Weg sein könnte, ein Projekt zu starten, das sich mit dem Verschwinden meines Freundes beschäftigt. Und dabei auch ein wenig weiterzublicken. Dieses Projekt ist nicht nur eine Hommage. Ich wusste, wenn ich jene Orte besuchte, an denen er war, mit Menschen sprach, mit denen auch er sich unterhalten hatte, dann würde ich vielleicht weiterkommen, als wenn ich nur über die üblichen Kanäle ginge. Dann hat das Projekt ein Eigenleben entwickelt.
„Ich wusste von Anfang an, dass ich diese Reise beginnen würde, ohne jemals das zu finden, wonach ich suchte.“
Edgar Martins, Fotograf
fotoMAGAZIN: Was haben Sie im Laufe dieses Projekts herausgefunden?
Edgar Martins: Ich wusste, dass Fotos nicht immer das ultimative Ziel sein müssen. Bei den meisten Fotojournalisten ist das allerdings so. Die von mir organisierten Sessions waren sehr kathartisch. Ich habe Menschen eingeladen, die am Bürgerkrieg beteiligt waren oder Nachfahren dieser Menschen sind, denn ich wollte ihre Geschichten verstehen. Das waren fast Therapiestunden und kleine Versöhnungen. Es war unglaublich, Menschen zu begegnen, die auf gegnerischen Seiten gekämpft hatten und nun gemeinsam weinten. Meine Fotosessions waren ein Weg, sie zusammenzubringen und wurden ein Instrument für das Storytelling. Das war eine meiner größten Erkenntnisse. Ich wusste von Anfang an, dass ich diese Reise beginnen würde, ohne jemals das zu finden, wonach ich suchte. Stattdessen fand ich unterwegs diese intensiven, tiefen Freundschaften und bekam über diese Menschen einen Zugang zur Geschichte meines Freundes, den ich nicht erwartet hatte.
fotoMAGAZIN: War Ihre Suche nicht von Anfang an sehr abstrakt angelegt?
Edgar Martins: Ich suchte nach jemand, doch das Problem war, dass es nichts gab, das mich irgendwohin geführt hätte. Ich kannte Antons Reiseroute, wusste, wo er vermutlich zu Tode gekommen ist und seine Leiche zurückgelassen wurde. An diesem Ort war ich und auch dort, wo man mir sagte, er sei in einem Massengrab verscharrt worden. Diese Orte habe ich besucht und unterwegs habe ich andere Menschen getroffen. Manche von ihnen waren an dem Krieg beteiligt, andere nicht. Bei diesem Projekt ging es mir darum, all die Geschichten zusammenzubringen und daraus meine eigene Geschichte zu machen. Hier in der Londoner Ausstellung im Somerset House sehen Sie nur einen kleinen Ausschnitt, lediglich die Porträts. Das ganze Projekt wird später einmal als immersives Erlebnis präsentiert, mit Zeichnungen der Krieger, die damit ihre Dämonen austreiben wollten. Dazu kommen Audioaufzeichnungen, die ich bei den einzelnen Stationen meines Weges gemacht habe und schließlich noch etwas viel dramatischeres als all dies: Das alles hier war Teil einer physischen Investigation. Einer der befragten Soldaten sagte mir: Du wirst vielleicht nicht deinen Freund finden, doch wir werden sicher Fotos seiner Leiche entdecken …
„Ich stellte meine Kamera auf ein Stativ, entfernte mich und ließ die Menschen mit einem Fernauslöser oft stundenlang allein vor der Kamera.“
Edgar Martins, Fotograf
fotoMAGAZIN: Wieso war er sich dabei so sicher?
Edgar Martins: Es ist scheinbar unter Kriegern üblich, die Person, die sie getötet haben, anschließend zu fotografieren. Ich habe Monate damit verbracht, in Darknet-Foren nach diesen Fotos zu suchen. Bereits bei meinen früheren Projekten hatte ich oft mit dem Tod zu tun gehabt und Fotos von Autopsien von Verbrechensopfer gesehen. Das war allerdings ganz anders – es waren die grausamsten Fotos, die Sie sich vorstellen können. Wie kann ich jedoch etwas Derartiges mit anderen teilen? Wenn ich das machen würde, würde ich jede Art von Dialog killen. Ich habe letztlich dann doch noch eine Bildserie gefunden, die nicht so explizit ist und zugleich die ganze Schwierigkeit des Dokumentierens offenlegt.
fotoMAGAZIN: In Ihrem Projekt mischen Sie fiktive, konstruierte Orte mit realen. Welcher Gedanke steckt dahinter?
Edgar Martins: Diese Orte haben einen wichtigen Bezug zur Reise meines Freundes. Meine Studiofotos dienen anderen Zwecken. All diese Bilder hier haben etwas von einer Performance. Das war mir aus drei Gründen wichtig. Zum einen fotografierte ich Menschen, die davor noch nie fotografiert worden sind, zumindest nicht professionell. Um nicht in die gleiche Falle zu geraten wie viele andere Fotografen – dem Missbrauch der Machtposition des Fotografen über die Porträtierten – legte ich die Kontrolle der Aufnahmesituation also in ihre Hand. Ich stellte meine Kamera auf ein Stativ, entfernte mich und ließ die Leute mit Fernauslöser bisweilen stundenlang allein vor der Kamera. Oft machten wir gar keine Bilder. Ich fotografierte so, dass sie sich dabei wohl fühlten.
Teil meines Konzeptes ist es, nicht offenzulegen, wer diese Menschen waren. Selbst wenn eine Bildunterschrift nun postuliert „Rebell“, dann könnte das nur in meiner Vorstellung ein Rebell gewesen sein. Es gibt hier immer die Realität der Situation und die Realität meiner Vorstellungskraft. Und Sie müssen wissen, dass das über zehn Jahre alles war, was ich hatte. In diesen Jahren stellte ich mir nur vor, wie die Orte wohl aussehen würden. Bei dieser Arbeit möchte ich, dass Sie die Menschen verstehen, sich auf sie und auf diese Orte einlassen, aber immer auch daran denken, dass all das nur meiner Vorstellungskraft entspringt.
fotoMAGAZIN: Haben Sie das Gefühl, nun gefunden zu haben, wonach Sie suchten?
Edgar Martins: Definitiv nicht, weil ich überhaupt keine Erwartungen hatte. Ich bin an keinem Ort angelangt, den ich etwa gesucht hätte. Ich bin aber definitiv an einem sehr überraschenden Ort angekommen. Ein Ort, der mir viel gebracht hat. Ich habe tiefe, hoffentlich lang anhaltende Freundschaften geschlossen. Als Fotograf hatte ich die Möglichkeit, mich selbst herauszufordern. Mich hat die fotografische Mythologie schon immer interessiert und das Philosophische im Storytelling. Ich bin sehr kritisch, wenn es um die traditionelle Erzählweise der Fotografie geht.
fotoMAGAZIN: Das war vermutlich Ihr bislang persönlichstes Fotoprojekt?!
Edgar Martins: Ganz definitiv! Die Orte waren so gewählt, dass sie der Geschichte meines Freundes entsprachen, aber durch das Hinzufügen von Bildern mit gemaltem Studiohintergrund war es mir möglich, einen performerischen Aspekt zuzufügen. Oft hatten die konstruierten Orte auch etwas Kollektives, wie das Dorf mit Menschen, die am Krieg beteiligt waren. Es war mir wichtig, diese beiden Dimensionen aufeinanderprallen zu lassen, sich überschneiden zu lassen und in meinem Werk zu verschmelzen.
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