Ein strahlender Sommertag beim Wiener Fotobuchfestival im Juni 2017. Bruce Davidson ist mit zwei Assistentinnen einige Tage vor der Eröffnung seiner Retrospektive bei WestLicht angereist und signiert hier seine Bildbände. Davor nimmt er sich Zeit für unser Interview, spricht jetzt mit leiser Stimme über sein Leben und seine herausragende Karriere.
fotoMAGAZIN: Ihre Biografin Vicki Goldberg hat über Sie geschrieben: „Er war ein Einzelgänger und die Fotografie gab ihm einen Grund, einer zu sein.“ Haben Sie das auch so empfunden?
Bruce Davidson: Das ist schon richtig. Als ich etwa 15 Jahre alt war, war die Kamera mein bester Freund – und zugleich auch mein Lexikon. Außerdem musst du sowieso manchmal allein sein, um gute Fotos zu bekommen. Am liebsten bin ich ganz allein unterwegs. Allerdings habe ich auch drei Filme gedreht und dabei hat es mir durchaus gefallen, in ein Team eingebunden zu sein. Heute arbeite ich zwar weiter allein, habe aber immer ein paar Helfer dabei, die aufpassen, dass ich nicht hinfalle.
fM: Als Sie beispielsweise mit der „Brooklyn Gang“ arbeiteten, mussten Sie 1959 auch in der Lage sein, auf diese jungen Leute zuzugehen, sie zu öffnen. Diese Fähigkeit zur schnellen Kontaktaufnahme muss genauso immer eines Ihrer Talente gewesen sein.
Davidson: Damals war ich ein Einzelgänger und diese Jungs spürten, dass ich mich bestimmten Aspekten des Lebens stellte. Im Falle des kleinwüchsigen Zirkus-Clowns Jimmy Armstrong (1958) konnte ich mich ebenfalls sehr gut in dessen Leben einfühlen. Ich bin ja selbst nicht gerade ein Riese (lächelt).
fM: Als Sie Ihre ersten Zirkusbilder machten, waren Sie nach eigenem Bekunden noch ein Romantiker. In den 1960er-Jahren, als Sie erneut im Zirkus fotografierten, betrachteten Sie sich bereits als Realist. Was hatte sich zwischenzeitlich verändert?
Davidson: Das Leben! Die alten Zirkuszelte wie bei den Ringling Brothers waren wichtig. Diese sind verschwunden. Sobald die Zirkusse in die riesigen Hallen umzogen, ging etwas verloren. Das brachte mich zum Nachdenken, was in der Zwischenzeit passiert war.
fM: Hatten Sie sich in der Zeit auch verändert?
Davidson: Nicht so sehr. Ich bin noch immer der kleine Junge mit der Kamera geblieben: Ich mag die Fotografie und liebe es, zu fotografieren.
fM: Sie haben im Alter von zehn Jahren zu fotografieren begonnen. Was von dem Bruce von damals finden Sie heute noch in sich?
Davidson: Von dem Jungen habe ich mich nicht weit entfernt. Das Entdecken war immer sehr wichtig für mich als Fünfzehnjähriger. Ein paar Bilder von damals haben übrigens überlebt.
„Die Kamera hat mir Manieren beigebracht. Mit ihr lernte ich, wie man sich respektvoll benimmt.“
Bruce Davidson, Fotograf
fM: Erinnern Sie sich an das erste Foto, auf das Sie richtig stolz waren?
Davidson: Ich habe ein ganz schlichtes Bild einer Frau mit einer Art Turban gemacht. Dieses Bild zeigt, dass ich mir bei der Aufnahme etwas gedacht habe. Ich versuche mich zu erinnern, wer das war. So mit 15 Jahren ließ ich die Leute in Chicago oft für mich posen.
fM: Für Sie war die Kamera ein Instrument, um etwas über die Welt zu erfahren. Was war die wichtigste Lektion, die Sie dabei gelernt haben?
Davidson: Ich lernte mit ihr, wie man sich jemanden nähert, wie man sich respektvoll benimmt. Die Kamera hat mir Manieren beigebracht.
fM: Was wäre aus Ihnen ohne eine Kamera geworden?
Davidson: Ich könnte mich ohne Kamera niemanden nähern. Mit ihr habe ich ein Werkzeug. Mit einer Kamera wirkst du seriöser auf die Leute.
fM: In welcher Phase Ihres Lebens haben Sie als Fotograf am meisten gelernt?
Davidson: Wissen Sie, ich bin einfach immer länger geblieben als die anderen. Die meisten machten einen schnellen Schnappschuss und gingen weiter – insbesondere die jungen Fotografen. Ich blieb solange, bis ich das Gefühl hatte, dort etwas gelernt zu haben. Die Person, die ich fotografierte, lernte dabei auch etwas. Das war bei „East 100th Street“ so, aber auch schon früher. Bei der „Brooklyn Gang“ und selbst bei meinen Bildern von John und Kate Wall. Diese hatte ich sehr früh fotografiert und diese Arbeit ging in die Tiefe. Ich lebte mit ihnen.
fM: Haben Sie sich diesen Ansatz intuitiv gewählt oder war es eine ganz bewusste Entscheidung, länger zu bleiben?
Davidson: Ich versuchte, den wahren Grund meiner Anwesenheit zu finden. Ich wollte lernen, was mich ausmacht. Die Walls lebten im Westen Amerikas. Ich bin noch mit dem Gedanken aufgewachsen, dass dort Cowboys und Indianer lebten. Dann ist der Westen immer mehr verschwunden. Es gibt ihn zwar noch immer, aber er ist jetzt anders. Dieses Paar lebte mal von den dortigen Minen, doch die Minen hatten bereits dicht gemacht. Sie waren Überbleibsel einer vergangenen Zeit. Ich lernte in der Zeit mit ihnen etwas über sie und ich lernte etwas über das Alter. Sie waren in den Achtzigern und Neunzigern. Ich merkte, dass ich ein Teil ihres Lebens sein konnte. Sie akzeptierten mich. Damals war ich noch als GI bei der US-Army. Das hatte ich ihnen erzählt und das hatte sicher auch einen Einfluss auf ihre Einstellung zu mir.
„Ich bin einfach immer länger geblieben. Ich blieb bis ich das Gefühl hatte, etwas gelernt zu haben.“
Bruce Davidson
fM: Sie sind der Meinung, dass Sie es jenen Menschen schuldig sind, die sich Ihnen gegenüber öffnen, länger zu bleiben. So geben Sie etwas von sich zurück. Sind die Fotografen Ihnen heute oft zu ausbeuterisch veranlagt, wenn Sie knipsen und gleich wieder verschwinden?
Davidson: So ist doch die ganze Gesellschaft strukturiert! Wir leben heute ganz anders als unsere Großväter. Es hat sich viel verändert. Die Gesellschaft ist jetzt auch gewalttätiger.
fM: Was bedeutet das für die Fotografie?
Davidson: Hier kann ich nur von mir sprechen. Mich zieht es jetzt mit meinen 84 Jahren ins Museum für Naturgeschichte. Dort interessieren mich die Dioramen und die ausgestopften Tiere. Ich suche nach neuen Perspektiven. Ob Adler oder Neandertaler – mit meiner Kamera finde ich ein Bild, das der Besucher so nie zu Gesicht bekommt. Die Leute bleiben nie länger und haben auch nicht das visuelle Verständnis. Meine Fotos aus dieser Serie sind alle analog. Ich hatte 50 Schachteln mit alten Agfa-Filmen im Eisschrank. Für dieses Projekt beschloss ich, mit diesen Schwarzweißfilmen zu arbeiten und die Bilder anschließend selbst abzuziehen.
fM: Sie machen Ihre Abzüge noch selbst?
Davidson: Ich war dafür etwa einen Monat in der Dunkelkammer und habe 100 Prints abgezogen. Das hat mir Spaß bereitet und die Fotos sind wirklich schön geworden.
fM: Was hat Sie zu diesem Thema gebracht?
Davidson: Es ist die Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Sterben. Ich möchte diese Ausstellungsstücke zum Leben erwecken. Sie hatten ihr Leben und ihren Tod. Und ich will sie reanimieren.
fM: Ist es nicht interessant, dass unsere Gesellschaft die Taxidermie heute eher ablehnt?
Davidson: Die Leute mögen den Gedanken nicht, dass ein Vogel für ein Präparat sterben musste. Das Wichtigste hier ist, dass mich niemand gebeten hat, das zu fotografieren. Es war keine Auftragsarbeit. Im Museum gibt es ein Schild: Keine Fotos mit Blitz oder Stativ. Ich habe mit beidem gearbeitet. Ich hab mich einfach rumgeschlichen (grinst).
fM: Das Verlangen nach absoluter Bewegungsfreiheit scheint wichtig bei Ihrer Arbeit. Sie benötigen dieses Gefühl, das anpacken zu können, wonach Ihnen ist ...
Davidson: Es hat sich so ergeben, dass ich diesmal an einem völlig anderen Ort gelandet bin und den Tod fotografiere.
fM: Haben Sie sich davor schon mit dem Tod auseinander gesetzt?
Davidson: Vielleicht unterbewusst. Heute ist er mir so nahe, dass ich ihn fast schon riechen kann.
fM: Haben Sie heute eine andere Einstellung dazu? Sie scheinen sich immer die Welt mit Ihren Bildern selbst zu erklären!
Davidson: Ich brauche keine Wörter. Manchmal siehst du Bilder, die du schon mal gemacht hast – dann wird es Zeit, etwas Neues anzupacken. Vielleicht ist das bei diesem Thema bereits passiert, denn momentan fotografiere ich etwas anderes.
fM: Als Sie im Alter von 24 Jahren zu Magnum kamen, waren Sie der jüngste Fotograf, der sich bis dahin zur Truppe gesellte. Waren Sie selbstbewusst genug für diese Ansammlung berühmter Fotografen?
Davidson: Cartier-Bresson war mein Freund und Mentor. Diese Konstellation war eine prima Eintrittskarte. Auch Ernst Haas hat sich um mich gekümmert. Und dann bin ich auch gleich losgezogen – zum Zirkus. Magnum hatte damals einen Bildarchivar namens Sam Holmes. Der war ein Hobby-Trapezkünstler und er erzählte von einem Zirkus in New Jersey. Ich habe sofort dort vorbeigeschaut.
fM: Sie schienen zu den Menschen, die Sie fotografierten, oft einen großen Zugang zu finden. Mussten Sie diese Nähe erst lernen?
Davidson: Es ist auch wichtig, dass ich den Leuten immer einen Print gegeben habe. Was auch immer sonst noch hinter diesen Bildern steckt: Es muss einen bestimmten Grund für die Aufnahmen geben, es muss Leidenschaft dahinter stecken und du musst Geduld mitbringen. Das sind die drei wichtigsten Dinge, das ist mein Manifest. Meine Fotos von der „East 100th Street“ haben den Anwohnern geholfen. Es war das erste Mal, dass etwas, das von einem Museum als Kunstwerk betrachtet wurde, gleichzeitig den abgebildeten Menschen wirklich geholfen hat.
fM: Woher kam der Wunsch, bei dem East 100th Street-Projekt mit einer Großbildkamera zu arbeiten?
Davidson: Ich spürte, dass von dem Moment der Aufnahme einer Person sehr viel abhängig war. Diesen Vorgang wollte ich verlangsamen und ich wollte mehr Details im Bild sehen. Zudem hatte ich den Wunsch, stärker zusammen mit den Portraitierten zu arbeiten. Die Dinge sollten sich erst einmal mehr entspannen, bis ich die Kamera benutzte. Ich lernte dann, dass ich mit dieser Kamera fast alles machen konnte.
„Es muss einen bestimmten Grund für die Aufnahmen geben, es muss Leidenschaft dahinter stecken und du musst Geduld mitbringen.“
Bruce Davidson
fM: Sie haben wichtige Bilder der Civil Rights-Bewegung in den Vereinigten Staaten gemacht. Dennoch hatten Sie überhaupt kein Wissen über die Black Culture in Ihrem Land, als Sie 1961 für Ihre Reportage in die Südstaaten reisten.
Davidson: Dort wo ich aufwuchs waren alle weiß. Der einzige Schwarze, den ich kannte, war Taylor. Als ich mal bei meinem Onkel jobbte, achtete Taylor darauf, dass ich keinen Ärger mit den Maschinen (in seiner Firma) bekam.
fM: Wäre Ihr fotografischer Ansatz anders gewesen, wenn Sie vor Ihrer Reise in die Südstaaten mehr über die Black Culture gewusst hätten?
Davidson: Ich hatte wirklich keine Ahnung und wurde mit dem Thema während des sogenannten „Freedom Ride“ zum ersten Mal konfrontiert. Damals hatte ich mich um ein Guggenheim-Stipendium beworben und wollte die Jugend in Amerika fotografieren. John Morris von Magnum hat mir dann den Auftrag im Süden besorgt. Ich lernte dort, wie die Menschen unterdrückt wurden. Überall lag Gewalt und Aggression in der Luft. Und mir wurde bewusst, dass die Bürgerrechtsbewegung die Dinge verändern würde.
fM: Bedauern Sie heute, etwas in Ihrer Karriere nicht angepackt zu haben?
Davidson: Ich bin jedenfalls froh, dass ich nicht tiefer in die Fashion-Welt eingetaucht bin. Ich war sehr talentiert, die Modezeitschriften wollten mich. Ich bereue nicht, dass ich stattdessen Fotos gemacht habe, die überwiegend eine Bedeutung hatten – wie meine Bilder der Bürgerrechtsbewegung. Selbst mein Buch über den Central Park hat noch Biss. Die Modefotografie wäre finanziell sehr lukrativ gewesen, doch mein Herzblut steckte nicht in diesen Bildern. Nachdem ich von den Südstaaten zurückkam und gesehen hatte, wie die Leute unter der Gewalt lebten, konnte ich keine Modefotos mehr schießen. Ich hätte nach all dem, was ich erlebt habe, keine Models in teuren Klamotten ablichten können. Also hörte ich mit der Modefotografie auf. Mit dieser Entscheidung habe ich nichts verloren, denn die Bilder, die ich stattdessen produzierte, bringen mir noch heute ein wachsendes Einkommen. Das sind jetzt Motive fürs Museum. Das Geld kam allerdings erst später. Diese Fotos werden jetzt an Museen, Galerien und Privatsammler verkauft.
Factfile: Bruce Davidson
- *5. September 1933 in Chicago, Illinois;
- beginnt mit 10 Jahren zu fotografieren,
- 1943 erste Kamera und eigene Dunkelkammer;
- 1946 arbeitet im Studio des Fotografen Al Cox;
- 1952 Ausbildung am Rochester Institute of Technology;
- 1954 Fotostudium an der Yale University bei Josef Albers;
- 1955-57 Militärdienst in einem Signal Corps-Labor in Arizona und in Paris;
- 1957 Freelance-Arbeiten für Life;
- seit 1958 Mitglied der Fotografenvereinigung Magnum;
- ab 1962 Beginn einer Reihe von Arbeiten über die amerikanische Bürgerrechtsbewegung;
- Einzelausstellung im New Yorker Museum of Modern Art;
- 1970 legendärer Bildband „East 100th Street“ über einen Wohnblock in Spanish Harlem.
Bis zum 13. August 2017 zeigte WestLicht in Wien die erste österreichische Retrospektive der Werke von Bruce Davidson.
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