Alisa Martynova: „Ich mache gerne Fehler“

Ein Gespräch mit der hochtalentierten russischen Bildermacherin Alisa Martynova über kreative Fehler, intuitives Arbeiten und die Atmosphäre menschlicher Gefühle.

Manfred Zollner

Manfred Zollner

Chefredakteur fotoMAGAZIN

Alisa Martynova

Alisa Martynova beim Festival La Gacilly-Baden Photo 2023.

Foto: © Manfred Zollner

Alisa Martynovas Langzeitprojekt „Nowhere Near“ beschäftigt sich mit dem Thema Migration. Dafür wählte die junge Russin fern aller stereotypen Klischees einen fast lyrischen Ansatz eines Gefühlszustandes. In Italien und Frankreich porträtierte Martynova Immigranten aus verschiedenen Ländern Afrikas und visualisierte die Träume und Emotionen der Heimatsuchenden. Dabei entstanden metaphorisch aufgeladene Bilder einer Reise, die den Sternenwanderungen am Himmel gleicht. fotoMAGAZIN sprach mit der hochtalentierten Bildermacherin während des Festivals La Gacilliy-Baden Photo, das ihre Arbeiten ausstellte.

fotoMAGAZIN:  Wie hat ihr Projekt „Nowhere Near“ begonnen?
Alisa Martynova: Während meines ersten Studienjahres an der Fotoschule in Florenz hatte ich 2017 den Auftrag bekommen, Porträts von Fremden zu machen. Ich beschloss, dabei mit Migranten aus Afrika zu arbeiten, da damals jeder über ihre Situation sprach, als ich aus Russland nach Italien kam. Dieses Aufeinanderprallen von Migranten und der lokalen Bevölkerung hatte ich noch nie so empfunden. Deshalb beschloss ich, das Thema genauer zu betrachten.

Migrantin

Landschaften spiegeln in diesem Projekt Zustände der Psyche der Migranten.

Foto: © Alisa Martynova

fotoMAGAZIN: Geht es bei dieser Arbeit mehr um Ihre Sicht auf das Thema oder die Perspektive der Migranten?
Alisa Martynova: Es ist eine Mischung aus beiden. Manchmal findest du die Interpretation deiner Bilder erst, nachdem du sie gemacht hast. Wir wollen doch alle gerne selbstsicher erscheinen und behaupten, dass wir wüssten, was wir tun. Wenn das tatsächlich so wäre, würden wir uns allerdings einschränken. Ich fühle mich durchaus wohl dabei, wenn ich nicht komplett weiß, was ich mache.

„Ich fühle mich tatsächlich richtig wohl dabei, wenn ich nicht ganz logisch erklären kann, was ich mache.“

Alisa Martynova, Fotografin

fotoMAGAZIN: Sie lassen mit Ihrem metaphorischen Ansatz in Ihren Fotos Platz für Interpretationen.
Alisa Martynova: Mit einer vordefinierten Idee wäre ich nie so weit gekommen! Ich habe viel zugehört, ohne ein einziges Bild zu machen – denn es hat bereits einen Einfluss, wenn du viel fotografierst und meinst hier einem eingeschlagenen Weg weiter folgen zu müssen. Ich habe viele Ansätze verfolgt. Letztlich spürte ich, dass der Weg, für den ich mich entschieden hatte, der richtige war. Ich mag es, wenn verschiedenen Interpretationen möglich sind. Ich habe meine Abschlussarbeit an der Universität im Fachbereich Philologie über die Romantik geschrieben. Davon konnte ich jetzt viel in der fotografischen Arbeit anwenden. Kürzlich habe ich nochmal Oscar Wilde gelesen. Der meinte, dass die Betrachter Kunst als Spiegel sähen. Sie interpretieren eine Arbeit als Spiegel des Selbst. Wenn ich also alles selbsterklärend produzierte, dann gäbe es in den Bildern diese Spiegelfunktion nicht mehr. Der direkte Bezug ginge verloren.
 
fotoMAGAZIN: Kam die Analogie der Situation der Migration zu den Sternenwanderungen am Himmel in Ihrem dritten Studienjahr dazu? 
Alisa Martynova: Ja, nachdem ich davor bereits viel Zeit mit den Leuten verbracht hatte. Dank meiner früheren Ausbildung in der Semiotik war ich es gewohnt, mit Metaphern umzugehen und den passenden Erzählstil für eine Story zu finden.
 
fotoMAGAZIN: Sie erzählen eine sehr komplexe Geschichte. Wie hat sich Ihr Erzählstrang entwickelt?
Alisa Martynova: Mein Ansatz ist sehr intuitiv, doch ich recherchiere davor auch viel. Ich lasse dabei Platz für Fehler und Zufälle und mische das mit meinen Recherche-Erkenntnissen. Manche Metaphern und Symbole kommen aus der Recherche –von Dialogen, die ich mit den Menschen über ihre Geschichte und ihre Träume führe. Am Ende kommt dann alles zusammen. Die Fehler, die ich beim Fotografieren gemacht habe, tragen ihren Teil zur Geschichte bei. Ich mache zunächst ganz viele Aufnahmen und betrachte dann ab einem gewissen Punkt alles zusammen.
 
fotoMAGAZIN: Zu welchem Zeitpunkt haben Sie beschlossen, ein eigenes Farbschema für Ihr Projekt zu entwickeln?
Alisa Martynova: Der erste Ansatz meine Abschlussarbeit an der Fotoschule war noch sehr reportagig. Danach beschloss ich, das Thema erneut aufzugreifen. Dann hatte ich das fotografische Handwerkszeug gelernt und war in der Lage, den stilistischen Ansatz dazu auszuwählen.
 
fotoMAGAZIN: Hat Ihre Geschichte eine universell übertragbare Botschaft?
Alisa Martynova: Ich wollte sie immer universell gestalten. Gleich zu Beginn der Arbeit beschloss ich, über Gefühle zu sprechen und nicht das zu tun, was die sogenannte „Straight Photography“ manchmal macht. Du erkennst das in der Geschichte der Fotografie immer wieder: Sobald die Betrachter zu viele brutale Bilder sehen, werden sie blockieren und nichts mehr an sich heranlassen. Ich wollte einen Ansatzpunkt finden, mit dem ich den Betrachter an das Thema heranbringen kann. Und über Emotionen geht das.
Lassen Sie mich zurück zur Romanik kommen: Die Landschaft, die Farben, die romantische Poesie haben eines gemeinsam. Sie repräsentieren die Atmosphäre der menschlichen Gefühle. Das wollte ich: Landschaften und Farben sollen die Gefühle der Porträtierten rüberbringen.

Kosmos

Das Langzeitprojekt mischt Porträts mit traumhaften, kosmischen Symbolen.

Foto: © Alisa Martynova

„Die Landschaft, die Farben, die romantische Poesie haben eines gemeinsam. Sie repräsentieren die Atmosphäre der menschlichen Gefühle.“

Alisa Martynova, Fotografin

fotoMAGAZIN: Sehen Sie die Bilder Ihrer Arbeit in linearer Abfolge?
Alisa Martynova: Es gab einen überraschenden Moment, als ich all diese inszenierten Bilder betrachtete und dachte, jetzt tatsächlich zu sehen, was in meinem Kopf vorgegangen war. Jetzt war all das auf Papier gebannt.
Vor ein paar Monaten arbeitete ich an einem anderen Fotoprojekt und war an einem Punkt angelangt, an dem ich nicht richtig weiterkam. Der Direktor meiner Fotoschule meinte dann zu mir:  Die Arbeit wird dich selbst ans Ziel führen.
 
fotoMAGAZIN: Geht es bei Ihrer Arbeit mehr um Ihre Sicht des Themas oder um die Sicht der Migranten?
Alisa Martynova: Ich glaube es ist eine Mischung aus beiden. Manchmal findest du die Interpretation der Bilder erst, nachdem du sie fotografiert hast. Irgendwo wollen wir alle selbstsicher erscheinen und behaupten, dass wir wüssten, was wir machen.  Wenn wir das wirklich wüssten, würden wir uns dabei einschränken. Ich fühle mich tatsächlich richtig wohl dabei, wenn ich nicht ganz logisch erklären kann, was ich mache.

„Ich fühle mich tatsächlich richtig wohl dabei, wenn ich nicht ganz logisch erklären kann, was ich mache.“

Alisa Martynova, Fotografin

Ich glaube es ist gut, wenn eine Arbeit den Entwicklungsraum lässt, unabhängig und unkontrolliert weiterzukommen.
Mit einer vordefinierten Idee wäre ich nie so weit gekommen. Ich habe viel zuhört und viel Zeit verbracht, ohne ein Bild zu machen – weil das auch bereits einen Einfluss hat, sobald du viele Bilder machst und meinst hier einem Weg weiter folgen zu müssen. Ich habe viele Ansätze verfolgt. Und letztlich fand ich, dass der Weg, für den ich mich entschieden hatte, der richtige war.  
 
fotoMAGAZIN: Sehen Sie heute einen Anfang und ein Ende in dieser Arbeit?
Alisa Martynova: Nein, denn für unterschiedliche Ausstellungen würde ich das anders angehen und auch eine andere Bildauswahl treffen. Es könnte sogar etwas anderes interpretiert werden, obwohl das alles den gleichen Ursprung hat.
Lassen Sie mich zurück zur Romanik kommen: Die Landschaft, die Farben, die romantische Poesie haben eines gemeinsam. Sie repräsentieren die Atmosphäre der menschlichen Gefühle. Das wollte ich auch repräsentieren: Landschaften und Farben sollen die Gefühle der Porträtierten rüberbringen.

„Die Landschaft, die Farben, die romantische Poesie haben eines gemeinsam. Sie repräsentieren die Atmosphäre der menschlichen Gefühle.“

Alisa Martynova

fotoMAGAZIN: Sehen Sie die Bilder Ihrer Arbeit in linearer Abfolge?
Alisa Martynova: Die Verbindung zwischen den Bildern ist nicht linear. Wie in bei meiner Präsentation in Baden sind die Fotos bislang nur zweimal ausgestellt worden. Idealerweise würde ich keine Prints zeigen. Ich habe Leuchtkästen dafür, Installationen in Blackboxen, die an der Wand hängen. Zu diesen Kästen gibt es einen Sucher und du musst durch diesen Betrachter schauen, um das Bild zu sehen. Ich wollte damit erreichen, dass der Betrachter bewusst einen Schritt auf ein Bild zugeht. Für unterschiedliche Ausstellungen würde ich das anders angehen und auch eine andere Bildauswahl treffen. Es könnte sogar etwas anderes interpretiert werden, obwohl das alles den gleichen Ursprung hat.
 
fotoMAGAZIN: Wie würden Sie Ihr Sujet hier beschreiben: Ist es der Gefühlszustand von Vertriebenen?
Alisa Martynova: Es sind nicht alles Flüchtlinge. Die Menschen haben alle einen völlig unterschiedlichen Hintergrund. Manche kamen aus wirtschaftlichen Gründen, andere aus politischen …
Es geht um die emotionale Landschaft eines Menschen, der sein Umfeld verändert. Der Begriff „deplatziert“ würde auch nicht passen, denn nicht jeder hier wurde gezwungen, irgendwo wegzugehen.
 
fotoMAGAZIN: Was verbindet die Menschen, die Sie in Ihrer Arbeit eingebunden haben?
Alisa Martynova: Sie alle kamen aus unterschiedlichen Ländern in Afrika nach Europa. Es geht um eine Reise durch das Unbekannte!Warum habe ich dieser Bildserie Aufnahmen des Weltalls zugefügt? Als ich mit den Migranten über ihre Gefühle sprach, bekam ich ganz viele, kontroverse Emotionen wie Mut oder Angst. Ich versuchte also eine Metapher zu finden, die für all diese ganze unterschiedlichen Emotionen stehen konnte. Und das war das Weltall. Es ist die Metapher für das Unbekannte, für die Zukunft und auch für die Vergangenheit, weil alles von dort gekommen ist. Ich spürte, dass diese nicht endende Story der Migration dort hinführt.

Frau auf trockenem Boden, Langzeitbelichtung

Alisa Martynova findet mystische Bilder des Aufbruch ins Unbekannte.

Foto: © Alisa Martynova

fotoMAGAZIN: Was verbindet all die Menschen, die Sie in Ihrer Arbeit eingebunden haben?
Alisa Martynova: Sie alle kamen aus unterschiedlichen Ländern in Afrika nach Europa.
 
fotoMAGAZIN: Geht es hier um das Leben als Reise durch einen nicht genauer definierten geographischen Raum und wie diese Reise Emotionen verändert?
Alisa Martynova: Es geht um eine Reise durch das Unbekannte! Warum habe ich dieser Bildserie Aufnahmen des Weltalls zugefügt? Als ich mit den Migranten über Gefühle sprach, gab da ganz viele, kontroverse Emotionen: Der Traum, der Mut, die Angst, die Furcht. Ich versuchte also eine Metapher zu finden, die für all diese ganze unterschiedlichen Emotionen stehen konnte. Und das war das Weltall. Es ist die Metapher für das Unbekannte, für die Zukunft und auch für die Vergangenheit, weil alles von dort gekommen ist. Ich spürte, dass diese nicht endende Story der Migration dort hinführt.

„Ich versuchte also eine Metapher zu finden, die für all diese ganze unterschiedlichen Emotionen stehen konnte. Und das war das Weltall.“

Alisa Martynova

fotoMAGAZIN: Welches Feedback haben Sie von den porträtierten Personen auf Ihre Bilder bekommen?
Alisa Martynova: Einer der Porträtierten aus Brazzaville im Kongo kam während einer meiner Ausstellungen und meinte: Genau so fühlt sich meine Situation als Migrant an. Wenn ich völlig allein da bin, bringe ich meine eigene Kultur mit. Aber ich stehe hier und schaue nach vorne. Nun liegt es an mir, herauszufinden, wohin ich als nächstes gehen möchte. Das sind Menschen, die sich im Irgendwo im Nirgendwo befinden.
 
fotoMAGAZIN: Isoliert in einem emotionalen Umfeld.
Alisa Martynova: Richtig. So haben diese Menschen mir ihre Gefühlslage beschrieben. Ich habe oft versucht, etwas über ihre Gefühle zu erfahren. Nicht, indem ich direkt danach fragte, sondern indem ich nach ihren Träumen fragte. Ich unterhielt mich auch mit Psychologen, las Bücher über die Geschichten der Migranten. Ich wollte so viel wie möglich über sie erfahren. Ich wollte nicht, dass ich diesen Menschen meine Sicht auf sie aufdränge. Es ist schließlich ihr Leben und ihre Geschichte.
 
fotoMAGAZIN: Wie alt sind Sie heute?
Alisa Martynova: Ich bin 29 Jahre alt. Als 2018 diese Arbeit international bekannter wurde, war ich 24 Jahre alt.
 
fotoMAGAZIN: In diesem jungen Alter sind Sie bereits sehr konzeptionell an dieses Projekt herangegangen.
Alisa Martynova: Man hat mir dabei aber auch viel geholfen. Anfangs probierte ich noch verschiedene Genres aus. Damals war es hilfreich, dass ich noch an der Fotoschule studierte. Dort halfen mir Leute, gewisse Dinge zu erkennen. Sie machten mir klar, was andere Fotografen machten und welche Herangehensweise ich hatte.

fotoMAGAZIN: Wieviel von dem ästhetischen Ansatz von „Nowhere Near“ können Sie in künftigen Projekten verwenden und wie sehr ist dieser ausschließlich projektbezogen?
Alisa Martynova: Ich mag meinen visuellen Ansatz wirklich, doch ich versuche, das Visuelle meinen Projekten anzupassen. Es muss zu meiner Story passen. Zudem versuche ich immer, meinen Ansatz weiterzuentwickeln. Das gilt selbst für die Fehler: Ich kann einen Fehler machen und wenn ich feststelle, dass mir das Ergebnis gefällt, kann ich später wieder so arbeiten und ihn in mein Projekt einbauen. Ich mache gerne Fehler!.

Vita: Alisa Martynova

Die 1994 in Russland geborene Alisa Martynova ist nach ihrem Studienabschluss in Philologie nach Florenz gezogen und hat dort 2019 einen Fotoabschluss an der Fondazione Studio Marangoni gemacht. Sie ist vielfach ausgezeichnet worden, zählte unter anderem 2020 zu den Nominierten für den Leica Oskar Barnack Newcomer Award und bekam 2021 einen World Press Photo Award.

Open Air-Ausstellung

Open Air-Präsentation von „Nowhere Near“ in Baden bei Wien.

Foto: © Manfred Zollner

Alisa Martynovas Ausstellung in Baden bei Wien ist noch bis zum 14. Oktober 2023 im Rahmen des Festivals La Gacilly-Baden Photo zu sehen.


 

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