INTERVIEW: Tom Seymour
Alejandro Cartagena wurde in Santo Domingo (Dominikanische Republik) geboren und zog als Kind nach Mexiko. Er lebt und arbeitet dort heute in Monterrey. Sein Bildband „A Small Guide to Homeownership“, betrachtet über mehr als ein Jahrzehnt die sozialen Auswirkungen der „Suburbanisierung“ von Monterrey. Das Projekt brachte Cartagena 2020 eine Shortlist-Nominierung für den Deutsche Börse Photography Foundation Prize und war bis zum 26. September 2021 in der Londoner Photographer‘s Gallery zu sehen. Hier zeigte Cartagena seine Bilder zusammen mit Archivcollagen von Werbeflyern der Immobilienplaner. Deren Werbung richtet sich an die mexikanische Unterschicht und deren Träume vom Eigenheim.
Cartagena kontrastiert derlei Bilder mit seinen Aufnahmen der Realität, die Hauskäufer vorfinden, nachdem sie ihre Ersparnisse investiert haben. Das Medium der Fotografie wurde von den Bauträgern im Sinne der beteiligten Firmen eingesetzt, um eine amerikanisierte Idee vom romantischen Eigenheim an oft fast verarmte Mexikaner zu verkaufen. Die Bilder der Werbung versprechen einen nahezu unerreichbaren Lebensstil, insbesondere in diesen winzigen, ghettoisierten Häusern, die die Bauträger anbieten. Cartagenas Arbeit steht in der Tradition der großen amerikanischen Dokumentar- und Landschaftsfotografen der Vergangenheit, wie Paul Graham, Lewis Baltz und Walker Evans.
fotoMAGAZIN: Wie weit reicht Ihre Arbeit an „A Small Guide to Homeownership“ zurück?
Alejandro Cartagena: Dieses Projekt begann 2005, als ich in der Fototeca de Nuevo León anfing, einem staatlichen Archiv zum Leben in Monterrey im 20. Jahrhundert. Dort lagern mehr als 300.000 Fotos aus über hundert Jahren Staatsgeschichte. Hier findet sich eine unglaublich große Palette von Aufnahmen. Meine Aufgabe war es, diese zu digitalisieren. Gleich zu Beginn bereiste ich 50 Städte des Staates, um Familienfotos für ein Buch über Alltagsfotografien zu sammeln. Ich tingelte von Montag bis Freitag mit meinem Laptop und einem Scanner durch Einkaufszentren und zu Kirchen. Dort bat ich die Besucher, bei ihnen zu Hause ihre Familienalben scannen zu dürfen. Das bot mir eine tolle Gelegenheit, zu lernen, wie man ein Projekt aufbaut – obwohl ich hier nicht selbst fotografierte.
fotoMAGAZIN: Was haben Sie im Archiv über Ihre Geschichte gelernt, das Ihnen nicht schon bewusst war?
Alejandro Cartagena: Ich habe gelernt, wie man die Welt fotografiert. In vielem habe ich das Monterrey, das um mich herum war, wiedergefunden und entdeckt, wie die Stadtentwicklung die Landschaft veränderte, wie sie sich auf Familien auswirkte und eine Form des neuen Kolonialismus Gestalt angenommen hat. Ich war besessen von der Ökologie der neuen Wohnprojekte, wie sie mit den Verkehrsnetzen in Verbindung stehen und der Bürokratie, die diese neuen Entwicklungen erst ermöglicht. So fing alles an – das Studium der Komplexität des Archivs war der Grund, warum ich letztlich so viele verschiedene Aspekte einer Idee fotografierte.
„Ich projiziere hier viel von mir selbst in diese Arbeit. Das ist die Basis des Feuers in mir.“
Alejandro Cartagena, Fotograf
fotoMAGAZIN: Die Serie kombiniert Ihre Aufnahmen mit ausgewählten Archivbildern und gefundenen Fotos. Wann haben Sie begonnen, selbst zu fotografieren?
Alejandro Cartagena: Bevor ich das Archiv entdeckte, hatte ich mich nicht mit Fotografie beschäftigt. Also musste ich Zeit damit verbringen, über formale Fragen nachzudenken, die ich vorher nie erwogen hatte. Ich kaufte mir eine Mittelformat- und eine Großbildkamera. Mit der Zeit lernte ich, die Komposition, das Licht zu verstehen und wie der Bildausschnitt einen Raum definieren kann. Als das erledigt war, war die nächste Überlegung: Was will ich erzählen? Ich begann, die Landschaft zu fotografieren, aber ich wollte auch etwas über sie lernen. Also machte ich mich vertraut mit der Theorie der Landschaft und ich versuchte herauszufinden, wie der öffentliche Raum ein Schlüssel zum Verständnis einer Kultur sein kann. Ich war von der Idee angetan, dass man nur über den Raum die Menschen verstehen kann, anstatt die Menschen zu fotografieren.
fotoMAGAZIN: Sie sagen, dass die Arbeit zum Teil auch ein autobiografisches Projekt ist. Wie ist das zu verstehen?
Alejandro Cartagena: Ich wurde in der Dominikanischen Republik geboren und als Kind nach Monterrey gebracht. Dieses Projekt war Teil dessen, was mich geprägt hat. Indem ich die Räume um mich herum kritisch betrachtete und fragte: „Warum wird das hier gebaut, und was bedeutet das für mich?“ Ich habe vier Jahre lang eine Psychoanalyse gemacht. Das half mir, zu erkennen, dass der Umzug nach Mexiko mich traumatisiert hatte. Dieser Schock im Alter von 13 Jahren steckte in mir. Ich hatte nie wirklich das Gefühl, von hier zu sein. Also projiziere ich hier viel von mir selbst in diese Arbeit. Das ist die Basis des Feuers in mir.
* Die Ausstellung zum Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2021 war bis zum 26. September 2021 in der Photographer‘s Gallery, London, zu sehen.
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