Zum Start seiner Retrospektive im Ernst Leitz Museum in Wetzlar haben wir mit dem Schweizer Fotografen Alberto Venzago über seinen Blick auf die Welt gesprochen. Die Ausstellung „Alberto Venzago: Stylist der Wirklichkeit“ läuft noch bis zum 14. Mai 2023.
fotoMAGAZIN: Ihr Vater war Architekt und Geiger, die Mutter kam aus einer Künstlerfamilie, der Bruder ist ein bekannter Dirigent. Wie sind Sie zur Fotografie gekommen, Herr Venzago?
Alberto Venzago: Ich bin Autodidakt und habe erst mit 26 Jahren angefangen, ernsthaft zu fotografieren. Die Lust hat mich getrieben. Ich habe als 15-Jähriger alle Mädchen in meiner Nachbarschaft nackt fotografiert – was meinen Eltern damals Ärger einbrachte. Denn sobald die Eltern dieser Mädchen entdeckten, waren sie entsetzt. Ich wusste bereits als 15-Jähriger, dass die Kamera ein Instrument ist, mit dem ich Türen öffnen kann.
fotoMAGAZIN: Sie hatten eine musikalische Ausbildung. War dieser Background später beim Fotografieren hilfreich?
Venzago: In der Musik fragt man sich, was wichtiger ist: die Melodie oder der Rhythmus. Bei der Fotografie fand ich immer, dass das Ergebnis ganzheitlich sein muss. Ein Bild muss eine versteckte Melodie haben. Die Musik war mein Lebensretter. Ich habe zehn Jahre lang Kriege Du kommst von diesen Kriegs- und Krisengebieten und bist völlig weggetreten oder wirst wie James Nachtwey oder Robert Capa zum Kriegs-Junkie. Dann besteht die Gefahr, dass du nur noch Kriege fotografieren möchtest. Die Musik hat mich in diesen Momenten gelehrt, dass es da noch etwas anderes gibt.
„Die Musik war mein Lebensretter.“
Alberto Venzago, Fotograf
fotoMAGAZIN: Gleich zu Beginn Ihrer Fotografentätigkeit gab es einen ganz direkten Bezug zur Musik: Sie arbeiteten als Konzertfotograf ...
Venzago: Als Autodidakt hatte ich damals die Möglichkeit, für die Zeitschrift Pop zu arbeiten. Mein erster Job: Ich war mit Pink Floyd während der „Dark Side of the Moon“-Tour unterwegs.
fotoMAGAZIN: War Ihnen damals bewusst, was für ein epochales Werk dieses Album war?
Venzago: Wir standen ja damals ziemlich unter Droge. Ich war vier Jahre auf LSD. Das hat auch mein Verhältnis zur Farbe sehr geprägt.
fotoMAGAZIN: Robert Capa war eines Ihrer frühen fotografischen Idole. War er der Grund, warum Sie sie zur Kriegsfotografie hingezogen fühlten?
Venzago: Vielleicht kam das eher von meinem familiären Hintergrund. Meine Mutter war jüdisch-deutsch und ihre ganze Familie wurde von den Nazis ermordet. Nur sie konnte in die Schweiz flüchten. Mein Vater ist vor Mussolini aus Italien in die Schweiz geflüchtet. Und ich plötzlich wollte plötzlich mehr über Kriege wissen. Mich haben nicht die kriegerischen Handlungen interessiert, sondern die Kollateralschäden des Krieges – Familien, Mütter, Kinder, die Menschen, die unmittelbar betroffen sind.
fotoMAGAZIN: Was hat das Leben in ständigen Gefahrenmomenten mit Ihnen gemacht?
Venzago: Es war einfach 100 Prozent Leben, 100 Prozent Adrenalin – und auch ein wenig jugendlicher Leichtsinn. Es beginnt, wenn du das erste Mal im Straßengraben liegend von einer 125 mm-Haubitze beschossen wirst und der Typ neben dir sagt: Wenn du die hörst, dann ist das gut, dann ist sie vorbeigeflogen. Da habe ich das erste Mal in die Hose gemacht. Später wurde auch im Iran auf mich geschossen und ich habe mich gefragt, wie viele Leben ich wohl noch habe. Dann überlebte ich auch noch einen Helikopterabsturz in Kalifornien. Da merkst du, dass ein wenig Demut jetzt angesagt wäre. Nach drei Ehen, einen Hirnschlag und einen Helikopterabsturz lässt es sich jetzt entspannt leben.
„Nach drei Ehen, einen Hirnschlag und einen Helikopterabsturz lässt es sich jetzt entspannt leben.“
Alberto Venzago, Fotograf
fotoMAGAZIN: Haben Sie diese Erfahrungen zu einem anderen Menschen gemacht?
Venzago: Ich denke schon. Das hat sich dann durch meine späteren Reportagen durchgezogen, als ich beispielsweise die Arbeit zur Kinderprostitution in Manila machte. Auch bei meiner Voodoo-Reportage im Benin. Mich hat immer die dunkle Seite des Lebens mehr interessiert. Ich habe viel geschrieben, doch das Wort ist sehr konkret. Die Fotografie ist hingegen eher unterwegs von etwas, das noch nicht konkret ist. Jeder kann sie interpretieren.
fotoMAGAZIN: Wir betrachten ein Foto und suchen nach eigenen Worten und Interpretationen.
Venzago: Ich weiß nicht genau, ob dieser Anblick der Welt durch den Sucher meine Sichtweise geklärt oder verzerrt hat. Oder ob die Kamera vor meinem Auge einfach ein nützlicher Filter war, damit ich nicht alles aus erster Hand erleben musste.
fotoMAGAZIN: Heute sagen Sie, man müsse eine gehörige Portion Dummheit mitbringen und Karriere machen wollen, wenn man zur Kriegsreportage komme.
Venzago: Das habe ich mal etwas salopp gesagt. Du schätzt ja immer das Risiko ein, wie weit du gehen kannst. Aber jetzt muss ich doch Robert Capa zitieren: „Wenn ein Bild nicht gut ist, warst du nicht nah genug dran.“ Capa hat auch mit einem 35mm-Objektiv fotografiert. Damit bist du gezwungen, nah ranzugehen, doch in gewissen Gefahrenmomenten bist du damit mittendrin. Das hat mir gefallen.
fotoMAGAZIN: Haben Sie heute ein anderes Gespür für Gefahrenmomente?
Venzago: Ich lebe ganz anders und schätze Lebensqualität anders ein. Was ist das Wesentliche? Mich leitet jetzt Demut und Dankbarkeit und diese Neugier, die ich für das Leben entwickelt habe. Meine Gefahreneinschätzung dämpft das manchmal ein wenig.
fotoMAGAZIN: Sie glauben an die Kraft der Fotografie, etwas verändern zu können. Heute gibt es nicht wenige, die der Meinung sind, die Menschen seien derart von Bildern übersättigt, dass diese nichts mehr bewegen können.
Venzago: Ich habe Bilder fotografiert, bei denen ich meinte, sie müssten so grauenhaft sein, dass niemand mehr ein Gewehr in die Hand nimmt. Irgendwann musste ich leider lernen: „C´est pas une image juste, c´est juste une image“.
Als der Bundestag nach meiner Reportage über Kinderprostitution das Gesetz zur Prostitution geändert hat, war ich überwältigt und glücklich. Es ist hart, mit diesen Kindern zu arbeiten, die permanent unter Drogen sind. Kindern, die in der Seele tot sind.
fotoMAGAZIN: Wie ist es Ihnen gelungen, bei Ihrer japanischen Yakuza-Serie die Akzeptanz der Mafia-Bosse zu bekommen?Venzago: Ich war für Newsweek und die Times in Tokio und habe dort abends immer schwarzen Mercedes-Limousinen gesehen. Dann merkte ich, dass die Typen, die dort ausstiegen, sich kleideten wie amerikanische Gangster der 50er-Jahre. Das Thema interessierte mich. Es dauerte sechs Monate, bis ich einen ersten Kontakt hatte und sechs weitere, bis ich fotografieren durfte.
Am Anfang war ich wie ein Hund an der Leine, der einfach nur mittrottete. Dann wurde es spannender und sie zeigten mir jetzt mehr. Die Yakuza nahm mich als Exoten auf. Ich versuche immer, aus der kleinstmöglichen Gruppe die Welt zu erklären. So ging ich zu einem Syndikat und versuchte, die Strukturen dort zu verstehen. Nach vier Jahren, in denen ich viel fotografiert hatte, brachte ich Bilder mit, um sie den Abgebildeten zu schenken. Es gab eine Versammlung, auf der die Aufnahmen verteilt wurden. Und ich merkte schnell: Das kommt überhaupt nicht gut an. Jetzt kam der Chef zu mir und meinte: Bedeute ich dir denn so wenig, bin ich denn nicht wichtig? Kannst du mich denn nicht in Farbe fotografieren?
Erst jetzt wurde mir klar: Schwarzweiß erschien ihm als billig. Farbe bedeutete Anerkennung. Daraufhin habe ich geflunkert und erklärt, ich sei farbenblind, hätte aber einen Vorschlag: Bei meinem nächsten Besuch käme mit einem Assistenten und würde mit einer großen Kamera fotografieren. Dann wurden alle so porträtiert, wie sie sich selbst sahen. Das war dann zwar plötzlich alles gestellt, aber jeder war glücklich.
fotoMAGAZIN: Wie lange dauerte es, bis Sie bei diesem Projekt das Gefühl hatten, alles fotografieren zu können, was Sie wollten?
Venzago: Es gab sicher mehrere Testphasen, aber dann kam diese Vollversammlung an Neujahr, bei der 1000 Killer im Saal saßen und drei Tage lang moralisch belehrt wurden. Dabei saß ich direkt hinter dem Boss auf der Bühne, mit zwei Leicas um den Hals. Und alle haben mich gesehen. Das war mein Ticket!
fotoMAGAZIN: Man könnte vermuten, dass es über all die Jahre und Jahrzehnte bei Ihnen eine permanente Sehnsucht nach Extremerfahrungen gab. Selbst bei Ihren Reisen nach Antarctica und zu den Rändern der Welt könnte man das erkennen: Das Verlangen, auszubrechen aus dem, was wir sonst zu sehen bekommen.
Venzago: Ich denke, mein Radius ist ein wenig größer als normal. Mich fasziniert das Dunkle, das Böse viel mehr als das Angenehme.
fotoMAGAZIN: War das Thema Kinderprostitution das schwierigste, mit dem Sie sich beschäftigt haben?
Venzago: Es war auf jeden Fall das Thema, das mich am meisten mitgenommen hat. Das sind schließlich Kinder! Das wichtigste in der Fotografie ist die Einstellung. Und ich denke dabei nicht an die Korrelation Blende/Zeit, sondern an die Einstellung, wie ich hier stehe und die Welt betrachte. Wo sind meine moralischen Werte? Wie beurteile ich etwas? Das ist die Voraussetzung, um an diese Themen ranzugehen.
fotoMAGAZIN: Ich kann mir vorstellen, dass man von derlei Projekten jedes Mal ein weiteres Päckchen Ballast mitbringt. Lässt sich das alles wegstecken?
Venzago: Nein. Das ist furchtbar, deshalb auch all diese verschiedenen Ehen und die Bindungsunfähigkeit.
fotoMAGAZIN: Sie waren vier Jahre bei der legendären Bildagentur Magnum in Paris.
Venzago: Die Zeit bei Magnum war schwierig. Ich war dort der Jüngste, war noch „Nominierter“ und merkte bereits: Entweder müsste ich dort noch Lobby-Arbeit machen oder ich würde nicht bleiben. Um zu bleiben hätte ich 75 Prozent aller Mitgliederstimmen benötigt. Und die habe ich nicht bekommen, weil ich polarisierte. Es gab Eifersüchteleien und auch schnell unglaubliche Missgunst, als ich sagte, ich gehe zur Yakuza. Dann kam sofort jemand und meinte: „Das ist meine Geschichte.“ Als ich fragte, was er schon gemacht habe, hieß es: Noch nichts. Dann denkst du: Das sind doch hier meine Heroes und jetzt kommt dieser Neid. Es war desillusionierend.
„Dann denkst du: Das sind doch hier meine Heroes und jetzt kommt dieser Neid.“
Alberto Venzago, Fotograf
fotoMAGAZIN: Wann haben Sie bei Magnum angefangen?Venzago: In den 1980er-Jahren. Ich hatte den Infinity-Award des International Center of Photography in New York gewonnen und dann kam Magnum auf mich zu.
fotoMAGAZIN: Was haben Sie aus den Jahren bei Magnum mitgenommen?
Venzago: Das waren meine Lehrjahre. Sie waren großartig. Ich schaute mir nächtelang Kontaktbögen an und kenne heute jedes Bild von Cartier-Bresson. Das war die eigentliche Lehre: Zu sehen, wie er zu diesen Bildern kam. Man braucht nur die Kontakte anschauen, um festzustellen, ob ein Foto ein Lucky Punch war.
fotoMAGAZIN: Sie haben auch als Werbefotograf gearbeitet und sagen, sie hätten dabei gelernt, präziser zu schauen. Können Sie das bitte etwas erläutern?
Venzago: In der Werbung hast du ein Bild, auf dem alles sein muss. Als ich zur Werbung kam, war sie noch toll. Die Auftraggeber hatten wirklich Geld. Man konnte eigentlich alles realisieren, wenn der Art Direktor deine Idee mochte. Es gab die Möglichkeit zu Reisen und es war die Zeit, in der man mir sagte: Die Werbung ist so abgelutscht. Wir müssen andere Konzepte entwickeln. Deine Bilder sehen so echt aus. Das waren eben Reportagefotos. Meine Auftraggeber wollten, dass ich meine Art zu fotografieren auf die Werbung übertrug. Ich hatte auch das Glück, die richtigen Kunden zu bekommen – wie Swissair oder anders anfangs UBS. Dort konnte ich meine Reportagefotografie mit der Hasselbald weiterführen und habe einfach hundertmal mehr Geld verdient. Für mich war das immer nur ein Mittel zum Zweck. Ich verdiene Geld, um meine Reportagen zu machen. Die fünf Jahre in Tokio waren sehr teuer, das musste ich finanzieren. Das Geld ging sofort wieder raus. Es war Luxus, in meinem jugendlichen Übermut zu leben zu sagen: das Geld kommt immer wieder rein.
fotoMAGAZIN: Wie stark prägt Ihre Persönlichkeit Ihre Bilder?
Venzago: Wenn ich beispielsweise Porträts von Prominenten mache. Man muss ja erst an sie rankommen und sie überzeugen. Oft ist das so, dass du in fünf Minuten die Person dazu führst, das zu tun, was du möchtest. Ich liebe diese fünf Minuten, in die die ganze Energie reingeht, um sofort einen Kontakt aufzubauen. Es geht jedoch darum, wie ich in kürzester Zeit jemanden führe oder verführe. Du musst sehr schnelle Entscheidungen treffen und technisch sehr versiert sein.
fotoMAGAZIN: Sie bezeichnen sich selbst als Einzelgänger.
Venzago: Ich sage immer, die Leica war meine beste Freundin. Ich liebe es, alleine zu sein, nachts durch die Straßen zu streunen und mich intuitiv auf etwas einzulassen. Ohne Verantwortung für jemand anderen. Ich bin nur für mich verantwortlich und mein eigenes Team. Es braucht keine Logistik und ich muss niemandem Rechenschaft ablegen.
fotoMAGAZIN: Hat sich dieser Typ früh abgezeichnet in Ihrem Leben?
Venzago: Bereits sehr früh. Mein Vater war auch solch ein einsamer Wolf. Er meinte immer: Dir wirst nichts Materielles erben von mir, aber du wirst mein Talent erben. Wenn du das bekommst und realisierst, dann liegt es in deiner Verantwortung, etwas daraus zu machen. Das ist mein Mantra geworden: Ich kann das allein, ich schaffe das, ich will das.
„Ich liebe es, allein zu sein, nachts durch die Straßen zu streunen und mich intuitiv auf etwas einzulassen. Ohne Verantwortung für andere.“
Alberto Venzago
fotoMAGAZIN: Langweilen Sie sich, wenn Sie sich wiederholen und alles in gewohnten Bahnen läuft?
Venzago: Das ist schon wahr. Mich hat beim Fotografieren immer der Lustfaktor interessiert. Wenn ich dabei noch Geld verdiene, während ich meine Lust auslebe, dann ist das doch großartig!
fotoMAGAZIN: Sie haben irgendwann festgestellt, dass Sie immer nach dem gleichen Frauentyp Ausschau halten. Das hat sich vermutlich auf ihre Bilder bezogen, doch es könnte sich auch generell auf Ihr Leben bezogen haben, oder? Nach ihrer Definition ist dieser Frauen Typ verletzlich, mysteriös und unnahbar.
Venzago: Die Mona Lisa (lacht)! Unnahbar ist gut. Das heißt: Ich muss mich auch ein bisschen ausliefern können. Sonst geht das nicht. Mysteriös gefällt mir auch.
fotoMAGAZIN: In Ihrer Philosophie als Fotograf hat der „Eternal Moment“ als Kontrapunkt zum „Decisive Moment“, dem entscheidenden Augenblick, eine feste Verankerung. Wie kam es dazu?
Venzago: Henri Cartier-Bressons „entscheidender Augenblick“ in der Fotografie ist mir natürlich eingeimpft. Er ist allerdings nicht wirklich wahr. Da gibt es doch noch etwas Größeres. Ich habe viel über den Buddhismus gelernt, zum Beispiel, dass man manchmal eine gewisse Gelassenheit braucht. Gerade als junger Fotograf bist du so scoop-orientiert. Diese Sensation muss unbedingt kommen. Es hat vielleicht auch mit dem Alter zu tun, wenn man sagt, es wird das kommen, was ich mir wünsche und ich habe ja genug Zeit.
fotoMAGAZIN: Stimmt es, dass Sie zwölf Jahre an Ihrem Voodoo-Film gearbeitet haben?
Venzago: Ja. Ich war jedes Jahr zwei bis drei Monate im Benin. Es machte keinen Sinn, die ständig dort zu bleiben, denn die Zeremonien sind alle während der Erntezeit. Ich musste darauf achten, wann die Zeit der Rituale war.
fotoMAGAZIN: Hat sie nach so langer Beschäftigung mit dem Thema Voodoo Ihr Bezug zum Übernatürlichen verändert?
Venzago: Sicher: Ich musste feststellen, dass alles, was ich über die Physik und andere Dinge gelernt habe, relativ ist.
fotoMAGZIN: Es muss bereits davor eine Bereitschaft bei Ihnen dagewesen sein, sich auf derlei Themen einzulassen. Denn. Sie waren schon vor dem Projekt mal bei einer Kartenleserin.
Venzago: Bei meinem jüdisch-katholischen Elternhaus hat die katholische Seite „gewonnen“. Ich war Ministrant, war im gregorianischen Chor, habe die Messe auf Lateinisch mitgemacht und war fasziniert von diesen Ritualen. Erklär mal einem Voodoo-Anhänger, dass Gott eine Dreifaltigkeit ist, dass Wein zum Blut wird! Das ist alles schon sehr abenteuerlich.
fotoMAGAZIN: Und Sie stellen nun unsere rationale Einstellung mehr in Frage?
Venzago: Unbedingt. Es ist ja nicht neu: Je mehr ich weiß, desto weniger weiß ich. Man lernt etwas Neues kennen und muss sich eingestehen: Ich muss den gelernten Pfad ein wenig verlassen.
fotoMAGAZIN: Ganz offensichtlich steckt etwas Rastloses in Ihnen. Waren Sie als Kind mit den Eltern viel unterwegs?
Venzago: Ich weiß noch, wie ich als Kind nachts Bücher über Reisen angeschaut habe, die mein Vater mitgebracht hatte. Das hat mich fasziniert. Ich konnte sie nächtelang anschauen und mir Geschichten vorstellen, noch bevor ich lesen lernte. Vielleicht bleibt sowas in dir. Es gibt jedenfalls keine intellektuelle Erklärung dafür, warum ich sonst so vom Dunkeln angezogen werde.
fotoMAGAZIN: Ist die Schweiz für Sie ein Heimathafen oder welche Rolle spielt die Schweizer Heimat heute?
Venzago: Die Schweiz war für mich ein Riesenprivileg, denn mit einem Schweizer pass konnte ich überall hinreisen. Doch Heimat ist für mich kein Ort, sondern eine Befindlichkeit.
Die Retrospektive: Das Ernst Leitz Museum in Wetzlar zeigt noch bis zum 14. Mai 2023 die Ausstellung „Alberto Venzago: Stylist der Wirklichkeit“.
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