Es gibt viele Fotografien vom 11. September. Die Flugzeuge, die in das World Trade Center fliegen. Die brennenden Türme. Die Aschewolken, die nach dem Einsturz alles und jeden bedeckten. Der sich aus dem Fenster stürzende Mann. Sie alle sind schreckliche Ikonen eines schrecklichen Tages.
Doch es gibt ein Foto, das mich vielleicht am allermeisten beeindruckt und vielleicht auch verstört hat. Es zeigt fünf Menschen, die scheinbar gelassen am Ufer des East Rivers in Williamsburg in Brooklyn sitzen, während im Hintergrund dicke, schwarze Rauchschwaden über Manhattan aufsteigen, nachdem die Türme des World Trade Centers eingestürzt waren.
Fotografiert hat es Thomas Hoepker. Er war zu diesem Zeitpunkt in Brooklyn und kam wegen des Terroranschlags zunächst nicht nach Manhatten hinüber. Beim Herumlaufen entdeckte er diese Gruppe auf der Terrasse eines italienischen Restaurants und fotografierte sie. Trotz der monströsen Ereignisse strahlt das Foto eine gespenstische Ruhe aus. Niemand aus der Gruppe schaut auf das Ereignis im Hintergrund. Sie scheinen sich zu unterhalten und sogar das warme Wetter zu genießen als wären sie bloß für einen Plausch zusammen gekommen.
Genau aus diesem Grund hielt Hoepker diese Fotografie vier Jahre lang unter Verschluss - das Foto hätte die Realität, wie er und andere den Tag erlebt haben, verdreht, sagte er später in einem Interview. Erst 2005 wurde es während einer Retrospektive im Münchener Stadtmuseum der Öffentlichkeit gezeigt.
Zu diesem Zeitpunkt war Hoepker bereits eine lebende Legende, ein Vertreter der alten Schule und der humanistischen Fotografie. Zwei Mal gewann er in den 1950er Jahren Preise beim Wettbewerb „Jugend photographiert“ und wurde auf den Bilderschauen der Photokina in Köln ausgestellt. Er fotografierte für die Zeitschriften Twen und Kristall und ging 1964 schließlich zum Stern, für den er drei Jahre lang aus Ost-Berlin und mehrere Jahre aus New York berichtete. 1966 begleitete er Muhammad Ali für mehrere Wochen und schuf gleich zwei Bildikonen dieser Boxikone: Auf der einen streckt er Hoepker die geballte Faust entgegen, auf der anderen springt er in Jesus-Pose von einer Mauer. Eliott Erwitt schlug Hoepker als Mitglied für Magnum vor, doch erst nach seiner Zeit beim Stern konnte er 1989 dort Mitglied werden und war von 2003 bis 2007 auch Präsident der Agentur.
Trotz seiner Alzheimer-Erkrankung war Hoepker noch aktiv und machte zusammen mit seiner späteren Frau Christine Kruchen Ausstellungen, zu denen er auch persönlich erschien. 2022 kam der Film „Dear Memories“ des Filmemachers Nahuel Lopez in die Kinos - bis zum 13. Oktober 2024 ist er nun in der ARD-Mediathek zu sehen. Es ist ein filmischer Roadtrip durch die USA, vor allem aber auch in die Vergangenheit Hoepkes, da er als junger Mann mehrere solcher Reisen mit der Kamera unternommen hatte. Nun gab die Fotografenagentur Magnum bekannt, dass Hoepker am 10. Juli im Alter von 88 Jahren verstorben ist.
Mehr von Thomas Hoepker auf der Magnum-Website
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