Elliott Erwitt: Meisterfotograf mit Blick für bewegende Momente

Er brachte Hunde dazu, für ihn Luftsprünge zu machen und hupte bei der Porträtsession Politiker in Laune. Elliott Erwitts Bilder sind heute Ikonen des 20. Jahrhunderts.

Manfred Zollner

Manfred Zollner

Chefredakteur fotoMAGAZIN

Elliott Erwitt mit Hund

Elliott Erwitt, New York City, USA 1999.

Foto: © Elliott Erwitt/MAGNUM PHOTOS

Bis ins hohe Alter von 95 Jahren hat der amerikanische Magnum-Fotograf die Welt der Fotografie mitgeprägt. Mit seinem Tod am 29. November endet eine Ära. In Würdigung dieses humorvollen Bildermachers veröffentlichen wir hier ein exklusives Interview, das uns Erwitt im Jahr 1996 gewährt hat.

fotoMAGAZIN: Mr. Erwitt, wie muss man Hunde anbellen, dass sie Luftsprünge machen?
Elliott Erwitt: Das hängt vom Hund ab, von dessen Nationalität, der Rasse, seiner Nervosität. Grundsätzlich hüpfen nur nervöse Hunde.

fotoMAGAZIN: Setzen Sie auf den Überraschungseffekt?
Elliott Erwitt: Klar, denn Hunde würden niemals daran denken, dass Menschen bellen.

fotoMAGAZIN: Bei normalem Hundegekläffe würden sie niemals so springen!
Elliott Erwitt: Stimmt. Vielleicht bemerken die Tiere etwas Ungewöhnliches in meinem Bellen.

fotoMAGAZIN: Hat Sie je ein Hund beim Fotografieren gebissen?Elliott Erwitt: Nein, aber einmal pinkelte mir ein Hund ans Bein und ich glaube, das war sein Kommentar zu meinen Bildern. Das geschah auch noch vor anderen Leuten und war mir furchtbar peinlich. Ich fragte gerade jemanden nach dem Weg, als der Hund auf mich zukam und mir das ganze Hosenbein durchnässte.

fotoMAGZIN: Sie überraschen bei Auftragsarbeiten auch gerne Menschen, wenn Sie vor der Aufnahme hupen.
Elliott Erwitt: Ja, ich bringe neben meiner Kleinbildkamera immer eine Fahrradklingel mit. Bei größeren Formaten nehme ich eine Hupe. In England besorgte ich mir gerade eine ganz besonders laute Hupe, mit der ich allerdings noch nicht gearbeitet habe. Sie könnte ein wenig zu aggressiv sein.

fotoMAGAZIN: Also eine Art Marx-Brothers-Technik, übertragen auf die Fotografie!
Elliott Erwitt: Vielleicht, aber ich glaube, die Jungs haben keine Fotos gemacht.

fotoMAGAZIN: Reagieren die Menschen rund um den Globus unterschiedlich auf Ihren Humor?
Elliott Erwitt: Im Vergleich zu England ist die Reaktion auf meine Bilder in Deutschland ziemlich ähnlich. Im Sprachwitz gibt es Feinheiten, die hier nicht rüberkommen.

fotoMAGAZIN: Ist Ihr Humor anerzogen oder vererbt?
Elliott Erwitt: Keine Ahnung. Ich habe jedenfalls keine große Erziehung genossen. Vielleicht kommt der Humor von meinem Mangel an Erziehung.

fotoMAGAZIN: Sie waren bereits als Soldat in Deutschland und kennen das Land. Bieten sich hier für Sie eine Vielzahl Motive an?
Elliott Erwitt: Für mich ist Deutschland nicht anders als jedes Land. Ich reise gerne an neue Orte. Neu kann dabei auch nur bedeuten, dass ich eine Weile nicht dort war und wieder stimuliert werde. Es fällt mir immer schwerer, an meinem Wohnort zu fotografieren, denn dort kenne ich alles bereits zu gut.

„Als Profi fühle ich mich wie ein Taxifahrer, der für jeden arbeitet, der ihm winkt.“

Elliott Erwitt, Magnum-Fotograf

fotoMAGAZIN: Wie sehen Sie die Deutschen?
Elliott Erwitt: Die nationalen Charakteristika sind offensichtlich. Die Deutschen sind reservierter als beispielsweise Italiener oder Spanier. Es ist hier wohl ein wenig schwerer, Bilder von Menschen auf der Straße zu machen als in Japan, wo jeder jeden fotografiert. Für mich macht das keinen großen Unterschied, denn ich mache meine Bilder schnell. Meist wissen die Leute nicht, dass sie von mir fotografiert wurden.

fotoMAGAZIN: Willy Ronis ist heute traurig darüber, dass viel von der Atmosphäre jener Orte, an denen er einst fotografierte, verloren ging. Geht es Ihnen ähnlich?
Elliott Erwitt: Das gute am Verschwinden einer Atmosphäre ist, dass eine neue folgt. Es ist schlecht, wenn du immer die gleiche Atmosphäre suchst. Das deutet an, dass du eine Formel oder Attitüde hast, bzw. nicht gewillt bist, nach Neuem zu suchen.

fotoMAGAZIN: Sie sagten mal, es gäbe Situationen, in denen sich Ihre Kamera zurück in die Vergangenheit gezogen fühle. Wie ist das zu verstehen?
Elliott Erwitt: Ich reise oft zu Orten, die ich kenne. Einfach, weil ich weiß, wie ich hinkomme. Ich bin natürlich noch neugierig auf Orte, die ich noch nicht gesehen habe. Da ich meine freien Arbeiten im Anschluss an Aufträge mache und diese Assginments an unspektakulären Orten sind, komme ich aber häufiger an gewöhnliche Orte.

fotoMAGAZIN: Suchen Sie eine bestimmte Bildstimmung?
Elliott Erwitt: Meine Idee vom Bildermachen ist, dass man ohne konkrete Vorstellungen kommt und sieht was passiert. Du könntest besonderes Wetter vorfinden, besondere Leute treffen, einem herausragenden Ereignis beiwohnen oder einfach nur Glück haben.

fotoMAGAZIN: In Ihrem Bildband „Fotografien 1946-1988“ sind einige Aufnahmen abgebildet, die mittlerweile von berühmten Kollegen kopiert wurden. Da ist zum Beispiel jenes Strandfoto eines saltoschlagenden Jünglings, das Herb Ritts später nachstellte und als Cover seines „Pictures“-Buches verwendete …
Elliott Erwitt: Herb Ritts kopierte mich! Er machte seine Aufnahme zehn bis zwölf Jahre nach meiner und kannte sicher mein Foto. Ich fühle mich geschmeichelt. Häufig kopieren Werbeagenturen meine Fotos. Manchmal bitten sie mich, die Bilder selbst nachzustellen. So darf ich wenigstens die Früchte meiner Arbeit einsammeln. Ich kann es aber nicht ausstehen, wenn man mich kopiert und das nicht zugibt. Ein paarmal war ich bereits vor Gericht und habe einige wichtige Prozesse gewonnen. Da gibt es ein Foto, das eine große Werbeagentur für Bierwerbung nachstellte. Daraus entwickelte sich ein Rechtsstreit, der drei Jahre lang französische Gerichte beschäftigte. Das war ein Präzedenzfall und mein Erfolg vor Gericht freut mich besonders. Leute mit viel Geld und Macht haben große Arroganz.

fotoMAGAZIN: Sie arbeiten auch als Filmemacher. Was schätzen Sie an der Fotografie im Vergleich zum Filmemachen?
Elliott Erwitt: Als Profi fühle ich mich wie ein Taxifahrer, der für jeden arbeitet, der ihm winkt, solange die Arbeit nicht unangenehm ist oder jemanden verletzt. Ich spezialisiere mich auf nichts.

„Du musst den Stars den Arsch küssen. Heute machst du kein Bild der Person, sondern eines ihres Images.“

Elliott Erwitt, Magnum-Fotograf

fotoMAGAZIN: Sie beklagen, dass es immer weniger Zeitschriften gibt, die gute Bilder zeigen. Wie kam es Ihrer Meinung nach dazu?
Elliott Erwitt: In den USA fällt mir kein wirklich großes Magazin mehr ein, mit Ausnahme der Sonntagsbeilage der New York Times. Life ist seit Jahren Müll, die schau ich mir nicht mal mehr an. In Europa gibt es noch mehr gute Zeitschriften. Ich glaube unter visuellen Gesichtspunkten findet man heute die interessantesten Fotos in Modezeitschriften. Wenn es irgendwo Arbeiten gibt, die neue und unverbraucht erscheinen, dann sind sie dort. Mich interessiert jedoch Mode überhaupt nicht.

fotoMAGAZIN: Können Sie angesichts dieser Entwicklung optimistisch in die Zukunft blicken?
Elliott Erwitt: Gute Fotos finden immer eine Heimat. Es wird kein so großes Zuhause sein wie in der Vergangenheit, aber sie kommen unter – in Büchern, Ausstellungen und Stiftungen zum Beispiel. Es gibt eine Verwendung dafür, wenn man das wirkliche Leben anstelle einer Scheinwelt zeigt.

fotoMAGAZIN: Viele Fotografen sind heute frustriert. Es wird für sie zunehmend schwieriger, den Lebensunterhalt zu verdienen …
Elliott Erwitt: Das ist das Schlimmste! Heute nimmt man den Leuten selbst die Möglichkeit, es einmal zu versuchen. Das ist das wahre Problem, das mit all dieser „Homogenisierung“ entsteht. Außergewöhnliche Bilder werden weiter gemacht, aber nicht für die Massen.

fotoMAGAZIN: Die Arbeit eines Werbefotografen zeichnet Ihrer Meinung nach „kreativer Gehorsam“ aus. Können Sie das etwas erläutern?
Elliott Erwitt: Wenn man für andere arbeitet, ist das letztlich immer „kreativer Gehorsam“. Du musst tun, was die von dir erwarten. Wenn du gut bist, solltest du das verbessern, was sie wollen.

fotoMAGAZIN: Macht man auch Ihnen ausführliche Vorgaben bei Werbeaufträgen?
Elliott Erwitt: Manchmal gibt es Kunden, die denken, ich hätte etwas dazu beigetragen. Andere geben mir ein Storyboard, das ich umsetzen muss. Natürlich kann man etwas hinzufügen. Mit „kreativem Gehorsam“ meine ich, dass man nicht alleine für sich arbeitet, sondern Rechenschaft ablegen muss. Wenn du meinst, dass das, was du machst dumm oder falsch ist, solltest du das für dich behalten.

fotoMAGAZIN: Nimmt die Werbefotografie noch immer einen Großteil Ihrer Zeit in Anspruch?
Elliott Erwitt: Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Der Rest ist mein Hobby. Es ist ein relativ neues Phänomen, dass sich meine Prints auf dem Kunstmarkt verkaufen. Ich hoffe, dass das meine „Sozialversicherung“ wird. Das ist gewissermaßen das Dessert. Die Hauptspeise verdiene ich mir mit Auftragsarbeiten. Und das ist in Ordnung so. „Kreativer Gehorsam“ oder nicht. Ich mag meinen Beruf!

fotoMAGAZIN: Sie sehen sich als Voyeur. Können Sie das verdeutlichen?
Elliott Erwitt: Ich bin ein Voyeur in dem Sinne, dass ich nicht so sehr am Geschehen teilnehme, sondern nur beobachte.

fotoMAGAZIN: Ist ein wenig Voyeurismus nicht Grundbedingung für jeden Fotografen?
Elliott Erwitt: Absolut. Am wenigsten interessant sind für mich Fotografen, die vorab wissen, was sie tun werden. Leute wie Richard Avedon. Da gibt es keine Entdeckung, alles bleibt Formel. Ich spreche von seinen fürchterlichen Passfotos, die Avedon im Tapetenformat vergrößerte. Seine Modefotos sind wunderbar. Ich möchte ihn jetzt nicht besonders herausgreifen, denn ich spreche generell von Menschen, die eine Formel auf alles anwenden. Ein anderer Fotograf dieser Art ist Yousuf Karsh. Seine Bilder sehen alle gleich aus. Karsh ist vielleicht ein wenig schmieriger als Avedon. Er drückt den Leuten Fett in die Hand. Das ist die Salonfotografie der 30er-Jahre. Ich weiß, dass ich mit diesem Gerede Ärger bekomme, aber das ist mir egal. Wissen Sie, es gibt so wunderbare Fotografen und ich bin traurig, dass die schmierigen die ganze Aufmerksamkeit bekommen, während viele gute Leute nicht beachtet werden. Die sind eben nicht so gut im Vermarkten und arbeiten nicht mit VIPs oder in der Modebranche. So dämmern sie dahin, während die Society-Poser Karriere machen.

fotoMAGAZIN: Sie möchten, dass die Menschen auf Ihre Bilder emotional reagieren. Können Sie das etwas erklären?
Elliott Erwitt: Ein perfektes, aber kaltes Foto bringt nichts. Nehmen wir zum Beispiel Robert Mapplethorpes Werk. Es ist in gewissem Sinne perfekt, sehr ästhetisch, aber meiner Ansicht nach eiskalt. Es mag ähnliche Arbeiten geben, die jedoch eine gewisse Wärme, eine Meinung oder Atmosphäre ausdrücken. Das brauchst du in der Kunst. Ich mag keine kalte, intellektuelle, sondern warme, emotionale Kunst.

fotoMAGAZIN: Sie haben schon früh im Labor Prints der Hollywoodstars angefertigt, später Set-Fotos bei mittlerweile berühmten Hollywoodstreifen gemacht. Wie stehen Sie heute zu der Starfabrik und den Starfotos?
Elliott Erwitt: Vor Jahren waren diese Menschen noch zugänglicher. Jetzt kontrollieren die großen Stars alles. Du musst denen praktisch den Arsch küssen. Heute machst Du kein Bild der Person, sondern eines des Star-Images. Leute wie Herb Ritts sind dabei sehr gut. Die schmeicheln denen und lassen sie gut aussehen. Sie haben einen Draht zu den Porträtierten. Die Stars kontrollieren das Material, das dabei entsteht, oder sie vertrauen dem Fotografen, dass er sie im bestmöglichen Licht zeigt. Das ist eine Art Vermarktung und Werbung, die mich nicht interessiert.

fotoMAGAZIN: Welches Ihrer Bilder haben Sie ganz besonders ins Herz geschlossen?
Elliott Erwitt: Das Bild des Jungen, der sich eine Pistole an den Kopf hält, ist eine meiner Lieblingsaufnahmen. Es ist gut, weil es Dynamik hat. Es funktioniert auf verschiedenen Ebenen und man kann verschiedene Deutungen hineinlesen. Die Aufnahme ist lustig und zugleich auch total unkomisch. Diese Widersprüche schätze ich.

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Kurz vor seinem Tod ist Erwitt im Oktober in die Wetzlarer Leica Hall of Fame aufgenommen worden. Eine Ausstellung seiner Meisterwerke ist dort in der Leica Galerie noch bis Ende Januar 2024 zu sehen. Zudem kürte Leica gerade eines von Erwitts Fotos als „Leica Picture of the Year“, das nun exklusiv über die Leica Galerien erworben werden kann. (> Leica Picture of the Year 2023)

Mensch mit Hund und Hundekopf

Leica Picture of the Year 2023: New York City, USA 2000

Foto: © Elliott Erwitt/MAGNUM PHOTOS 

Fact File Elliott Erwitt

1928: Als Kind russischer Exilanten in Paris geboren. Verbringt seine Kindheit in Mailand.
1938: Flucht vor den Faschisten. Familie zieht in die USA.
1943: Jobbt in Hollywood-Labors.
1948-1950: Filmstudium an der New Yorker New Social Research.
1951-1953: Als Laborant der US Army in Deutschland und Frankreich; Reportage über Soldatenleben gewinnt den ersten Preis des Life-Fotowettbewerbs.
1950-1952: Fotograf der Standard Oil Company.
Ab 1953: Freelance-Fotograf und Mitglied der Bildagentur Magnum.
1996: Ernennung zum BFF-Ehrenmitglied.
Oktober 2023: Erhält den Leica Hall of Fame Award für sein Lebenswerk.
29. November 2023: Im Alter von 95 Jahren verstorben in New York.

Seine Spezialität: Hintergründig-ironische Alltagsbetrachtungen voll formaler Schönheit.
Seine Philosophie: Das Publikum sollte verstehen, was man gemacht hat.
Auswahl seiner Bildbände: Geschlechtertanz (Scalo); Unter Hunden (Scalo); „Retrospektive 1946-1988“. „Personal Exposures – Fotografien 1946 bis 1988“ (Schirmer/Mosel).

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