Corina Gertz: Zwischen Porträt und Typologie


Seit 15 Jahren fotografiert Corina Gertz weltweit Frauen in traditioneller Kleidung und nach einem standardisierten Verfahren: Immer vor einem schwarzen Hintergrund und immer von hinten.

Dieses abgewandte Porträt hat Corina Gertz 2022 in Kenia aufgenommen.

Dieses abgewandte Porträt hat Corina Gertz 2022 in Kenia aufgenommen.

Bild: Corina Gertz

Die abgewandten Porträts von Corina Gertz irritieren auf den ersten Blick, denn der Mensch selbst bleibt auf ihnen im Verborgenen. Im Mittelpunkt stehen bei ihr die Trachten und prächtigen Stoffe, die zu strahlenden Skulpturen werden. Auf der ganzen Welt fotografiert die gelernte Modedesignerin Menschen in ihrer traditionellen Kleidung und macht damit Unterschiede wie Gemeinsamkeiten sichtbar. Damian Zimmermann sprach mit Corina Gertz über ihre Arbeit, ihre Beweggründe und ihre Faszination für niederländische Porträt- und Stillleben-Malerei des 17. Jahrhunderts.

Für deine Serie „Das abgewandte Porträt“ fotografierst du Frauen in traditioneller Kleidung und Trachten. Allerdings als Rückenansicht oder manchmal auch im verlorenen Profil. Warum diese demonstrative Abkehr vom klassischen Porträt, in dem der Mensch im Vordergrund steht?

Das Gesicht, die Mimik eines Menschen oder auch die Hände üben eine starke Anziehungskraft aus, die mich von dem Eigentlichen, das ich fotografisch festhalten möchte, abgelenkt hat. Deshalb habe ich bereits sehr früh mit den „Rücken-Porträts“ begonnen. In diesen abgewandten Darstellungen kann ich den Fokus auf die Kleidung als nonverbale Kommunikation setzen. Gerade an traditioneller Bekleidung lassen sich von Personen aus der Region verschiedene soziale Codes ablesen. Jede Aufnahme innerhalb einer Serie stellt auch immer die Individualität der Person dar, gleichzeitig zeigt sie Ähnlichkeiten der Gegebenheiten zueinander. Ich versuche so zu fotografieren, dass ich auch vergleichend schauen kann. Immer wieder gibt es bestimmte Aspekte, die bei den verschiedenen Bekleidungen hervorstechen, sich ähneln, obwohl die Länder gar nichts miteinander zu tun haben. In der Anthropologie zeigen viele historische Abbildungen regionaler Bekleidung nicht die Rückseiten. Daher erfüllen die abgewandten Porträts hier nicht nur ästhetische Ziele. Sie schließen auf ihre Weise gleichermaßen eine Lücke in unserer Wahrnehmung wie in der Dokumentation.

Aus Serbien stammt diese farbenfrohe Tracht.

Aus Serbien stammt diese farbenfrohe Tracht.

Bild: Corina Gertz

Wo und wen fotografierst du?

Das ist sehr unterschiedlich. Ich fahre manchmal zu Brauchtumsfesten, da spreche ich die Frauen an oder ich begegne Menschen, die aus einem traditionsbewussten Ort stammen und mir dort Kontakte vermitteln. Die spanische Gemeinde Lagartera beispielsweise lernte ich über Instagram kennen. Sie luden mich dann zu Christi Himmelfahrt ein, die Frauen des Dorfes in ihren opulenten Kostümen zu fotografieren.

Bei dem Projekt in China 2017 mit Kleidungsstücken aus der Tang-Dynastie, der Zeit um 617 bis 907, war die Vorgehensweise ganz anders. Es gab nur sehr wenige vorhandene historische Kleidungsstücke, da das meiste durch die Kulturrevolution in den 1960er Jahren zerstört worden war. Deshalb wird vieles heute zu touristischen Zwecken aus Kunststoffmaterialien nachgestaltet, was man auf Fotos jedoch sofort sieht. Aus diesem Grund habe ich mit Studierenden und Professor*innen der Hochschule in Shanghai, dem Chinese Costume Restoration Team, zusammengearbeitet, sie haben recherchiert und die Kleidung nach ihren historischen Erkenntnissen nachgearbeitet. Die Vorgehensweise war sehr aufwendig und detailliert, vielen Fragen wurde nachgegangen: Zum Beispiel wie die Druck- und Webtechniken in dieser Zeit aussahen, ebenso wie bestimmte Schnürungen und Drapierungen präsentiert wurden oder wie Frisuren und Accessoires gestaltet waren. Vieles konnte anhand von Ausgrabungs- und Fundstücken recherchiert werden.

Gerade bist du auf Kuba. Was machst du da genau und wie unterscheidet sich das von anderen Orten?

Ich habe mich auf die Ausschreibung für eine Artist Residency auf Kuba beworben und das Glück gehabt, eingeladen worden zu sein. Dadurch erhalte ich auch Unterstützung bei der Durchführung meines Projekts. Kamera, Stativ und den schwarzen Hintergrund habe ich mitbringen können, die Blitzanlage konnte ich von einem in Havanna ansässigen Kollegen ausleihen. Jedoch muss ich wegen täglicher, stundenlanger Stromausfälle oft improvisieren.

Ich verfolge in Kuba drei unterschiedliche Themen: die Kleidungsriten der Santeria-Anhänger – eine Religion, die sich aus afrikanischen Yoruba-Traditionen und katholischen Einflüssen entwickelt hat - der Einfluss der Mode aus Westafrika sowie die Kostüme der Tänzerinnen und Tänzer des Club Tropicana, die eine Kopie einer Kopie von den Originalkostümen aus den 1950er Jahren sind.

In China mussten viele Kleidungsstücke erst noch hergestellt werden.

In China mussten viele Kleidungsstücke erst noch hergestellt werden.

Bild: Corina Gertz

Warum fotografierst du immer vor dem tiefschwarzen Hintergrund? Oft wird er als neutral bezeichnet, aber ein schwarzer Hintergrund ist nicht neutral, weil er alles schluckt.

Ich versuche mich in meiner fotografischen Gestaltung auf das Wesentliche zu reduzieren, d.h. Klarheit, Konzentration auf Form und Farben. Im Fokus steht für mich die Präsenz des Kleidungsstücks, die Frisur und Körperspannung der Person, die sich am besten aus der Rückansicht erschließen lässt. Durch den schwarzen Hintergrund, aber auch die punktuelle Lichtführung entsteht eine suggestive und gleichzeitig intensive Farbigkeit, die die körperlichen und haptischen Qualitäten des Motivs für den Betrachter fast greifbar erscheinen lassen.

Bereits früh hat mich die niederländische Porträt- und Stillleben-Malerei des 17. Jahrhunderts fasziniert, mit ihren detailreichen, zugleich klaren, haptisch greifbaren Kompositionen vor diesem unergründlichen Schwarz des Hintergrunds. Was mich bei den Stillleben auch immer wieder besonders beeindruckte, war ihr strenger kompositorischer Aufbau, der etwa dem Schnappschuss völlig entgegengesetzt ist. Gleichzeitig auch die Ruhe, die sie ausstrahlen, insbesondere durch einen fast unergründlichen, ihr Geheimnis bewahrenden Hintergrund.

Sind die Modelle, die die Kleidung tragen, auch die Besitzer der Trachten und traditionellen Kleidungsstücke oder wie kommst du sowohl an die Kleidung als auch an die Modelle?

Ja, fast immer gehören die Kleidungsstücke auch den Personen, die ich fotografiere. Ausnahme sind die abgewandten Porträts mit den Kostümen aus der Tang Dynastie in China – aus den bereits genannten Gründen.

In Italien fand Gertz diese farbenfrohe Tracht.

In Italien fand Gertz diese farbenfrohe Tracht.

Bild: Corina Gertz

Du bist Modedesignerin. Die Mode lebt davon, dass ständig etwas Neues entsteht. Sind Trachten und traditionelle Kleidung nicht das Gegenteil von Mode?

Ich habe ursprünglich Modedesign studiert, als Modedesignerin gearbeitet und auch als Gastprofessorin Mode in China unterrichtet. Dabei flossen immer auch alte Handwerkstechniken sowie Modegeschichte in meine Arbeit mit ein.

Kleidung als nonverbales Kommunikationsmittel findet sich natürlich in traditionellen Riten, aber auch in der Mode, auch wenn diese durch die großen Modeketten zunehmend demokratisiert wird.

Im Zeitalter der Globalisierung ist die Produktion von Massenmode zu einem der größten und wichtigsten Wirtschaftsfaktoren geworden, was unweigerlich eine Negativspirale an ökologischen, aber auch ethischen und kulturellen Problemen nach sich zieht. Modeindustrie und Globalisierung stehen heute für die weltweite Dominanz der westlichen Mode, d.h. auch für die Verwestlichung der Modekonsumenten. Im Gegensatz zu dieser Vereinheitlichung spielen für viele Menschen die eigenen Wurzeln eine wichtige Rolle, vor allem in Zeiten von großen Fluchtbewegungen.

Wann kam der Punkt, dass du Mode fotografisch sammeln wolltest statt sie selbst zu gestalten?

Als ich Mitte der 1990er Jahre im südlichen Afrika lebte, besuchte ich immer wieder über längere Zeiträume das Nomadenvolk der Himba im Norden Namibias. Damals lebten diese Menschen noch relativ unberührt von der westlichen Zivilisation und dem Tourismus. Jede Frisur, jedes Kleidungs- und Schmuckstück hatte eine bestimmte Bedeutung und diente nicht rein der Dekoration.

Ich denke die Fotografie gibt mir die Möglichkeit, Dinge festzuhalten, zu dokumentieren und in einer bestimmten Ordnung abzubilden. Das Herausstellen einer einzelnen Tracht als konzentriertes Rückenporträt erlaubt es spezielle Besonderheiten zu zeigen sowie isolierte Einzelheiten zu betrachten. In aller Klarheit und Feinheit können z.B. Texturen und Ausformungen von Stoffen, Stickereien oder auch Kopfbedeckungen präsentiert werden. Schaut man sich die ganze Serie an, spielt die formal-ästhetische Bildgestaltung eine wichtige Rolle, die u.a. auch Aufschluss über soziale Ordnung, Familienstand, Beruf oder Alter geben kann.

Vielen Dank für das Interview.

Bis zum 25. August sind Corina Gertz’ abgewandte Porträts in der Ausstellung „Zwischen Sturm und Stille“ im Internationalen Maritimen Museum Hamburg zu sehen.

Corina Gertz: „Das abgewandte Porträt“, 176 Seiten, 40 Euro, Kerber Verlag

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