Es gibt im optischen Entstehungsprozess einer Fotografie keine Unterscheidung zwischen analog und digital. Korrekterweise sollten wir von fotochemischer und fotoelektrischer Bildaufzeichnung sprechen oder von nassen und trockenen Verfahren.
Die Begriffe „analog“ und „digital“ stammen aus der Telefonie. Dort hatte der digitale Wandel Anfang der 90er-Jahre eingesetzt, zehn Jahre vor der digitalen Revolution in der Fototechnik. Eine brillante Marketingleistung der Industrie setzte die beiden Begriffe aus der Telekomunikation mit Fotografie von gestern und Fotografie der Zukunft gleich.
Ist das heutige Revival des Films und vieler fotografischer Lichtbildtechniken wie Pigmentdruck, Platindruck und der Nassplattenfotografie nur ein reaktionärer Konservatismus, ein modischer Hype oder ein bleibender Trend? Steckt dahinter eine romantische Sehnsucht, die die Werkzeuge der Großeltern wieder mit Leben füllen möchte?
Das Analoge ist jedenfalls derzeit im Aufwind. Im Rahmen des UNESCO-Programms zum Immateriellen Erbe der Menschheit hat die Schweizer Stiftung Ballenberg die analogen Fototechniken als schützenswertes Handwerk aufgenommen. Analog ist heute nicht nur die Fotografie mit Film, sondern umfasst alle historischen fotografischen Verfahren.
Warum heute noch analog fotografieren?
Hier stellen wir Ihnen sechs Gründe vor, warum es sich im Zeitalter der Digitalfotografie noch lohnt, mit traditionellen Analogtechniken zu experimentieren. Die Analogfotografie macht nicht nur unabhängiges Arbeiten möglich, auch macht sie Fotos zu Unikaten, hilft das fotografische Auge zu schulen, gibt dem Zufall eine Chance und macht Lust auf Experimente.
1. Analogfotografie macht unabhängig
Die Kunst des Analogen liegt im Selbermachen. Das unabhängige Arbeiten ist vielen Analogfotografen extrem wichtig. Sie wollen Handwerker und „Augenwerker“ bleiben und ihre Bilder real fühlen. Ihr Streben gilt der eigenen Vision, der persönlichen Handschrift beim Fotografieren. Neueste, status-trächtige Kameratechnik ist ihnen nicht wichtig.
Die oft geerbte Analoge wird zum Schmuckstück, das Fotografieren mit ihr gleicht dem Vergnügen einer Ausfahrt im Oldtimer an einem Sommerwochenende. Bauen Sie sich Ihre eigene Kamera – von der einfachen Pinhole-Kamera bis zur großen Balgenkamera ist alles machbar. Der Künstler Miroslav Tichý bastelte beispielsweise einst Kameras und Objektive aus alten Brillengläsern.
2. Analogfotografie macht Fotos zu Unikaten
Vor vier Jahren entdeckten in Kirchheim ob Teck Altbauentrümpler im Keller eines zum Abriss freigegebenen Hauses hunderte von Glasnegativen. Es handelte sich um das Archiv des Fotografen Otto Hofmann. Die Arbeiter erkannten sofort die Bedeutung ihres Fundes. Kein Fremder würde heute hingegen bei einer Hausräumung auf alten Computerfestplatten nach digitalen Fotos suchen. Damit gehen Millionen Bilder im digitalen Nirvana verloren. Bilder, die nur dann existieren, wenn man ihnen Strom zuführt, haben keinen physikalischen Wert. Sie sind nicht haptisch „greifbar“.
Der Kunsthandel liebt das fotografische Unikat. Jedes analoge Positiv oder Negativ ist ein Unikat, von dem im Labor weitere Unikate produziert werden können. Natürlich ist es auch möglich, aus digitalen Daten Fotoabzüge zu machen. Wird eine digitale Aufnahme mit „nassen Verfahren“ geprintet oder belichtet, dann können dabei durch die kunsthandwerkliche Qualität eines talentierten Laboranten wertvollere Bilder für den Kunstmarkt entstehen. Imperfektionen hauchen einem Motiv manchmal Leben ein und machen jeden Abzug zum Unikat.
3. Die Analogfotografie macht Lust auf Experimente
Pflanzen Sie Spinat in Ihrem Garten an. Wenn er groß ist, pürieren Sie diesen und versetzen ihn mit Alkohol und etwas Wasser. Und schon haben Sie eine fotoempfindliche Emulsion.
Diese Technik heißt Anthotypie und sie funktioniert auch mit Rotwein, Blaukraut und vielen anderen Pflanzen. Mit Hilfe der Nassplattentechnik können Sie Ihre eigenen Glasplatten- Negative herstellen. Natürlich können Sie auch alles, was Sie benötigen, im Fachhandel für Analogbedarf kaufen. Besuchen Sie zudem Workshops, in denen Sie handwerklich arbeiten lernen.
Versuchen Sie, hybrid zu arbeiten, indem Sie digitale Aufnahmen mit einer analogen Ausgabe kombinieren. Sie möchten mit Film fotografieren, aber am Computer mit einem Bildbearbeitungsprogramm retuschieren? Kein Problem, Sie können danach auch wieder ein Negativ drucken. Natürlich sollten Sie das üben, aber es bereichert Ihre handwerkliche Fertigkeit. Ihre Kreativität muss nicht beim Drücken eines „Print“-Knopfes enden.
4. Analogfotografie hilft sehen lernen
Das Fotografieren ohne elektronische Hilfsmittel ist das Fitnessprogramm der Fotografie. Legen Sie sich beispielsweise eine alte Zwei-Augen-Mittelformatkamera zu, eine Yashica (etwa 100 Euro) oder eine Rolleiflex (etwa 500 Euro).
Ihr erster Analogfilm wird vermutlich eine Katastrophe, doch mit jeder weiteren Rolle werden Sie spürbare Fortschritte machen. Da in den Suchern der erwähnten Kameras das Bild seitenverkehrt und auf dem Kopf steht, lernen Sie, Bilder anders zu beurteilen. Das auf den Kopf gestellte Motiv bot Fotografen lange einen wichtigen kompositorischen Kontrollmechanismus, denn diese Perspektive hilft, Fehler zu erkennen. Ein guter Handwerker kann bei der Analogfotografie mit jedem Arbeitsschritt sein Können verbessern – im Gegensatz zum Digitalen, wo das stetige Lernen Pflicht ist, um mit den industriellen Updates mitzuhalten.
Im Analogen bleiben die Werkzeuge stets die gleichen. Ein Fotograf konnte in der Mitte des 20. Jahrhunderts sein Leben lang mit denselben Kameras fotografieren. Fotografen sollten wie Musiker täglich Etüden einüben und eins mit dem Instrument werden, das sie bespielen. So kann ihre Kamera zum verlängerten Auge werden. Eines der größten Erkenntnisse dieser analogen Meditation ist es, dass der Fotograf vorher darüber nachdenken muss, wie ein gutes Bild entsteht. Das wird später auch seine Arbeitsweise mit einer Digitalkamera beeinflussen. Henri Cartier-Bresson beschwor zwar den „entscheidenden Augenblick“, aber er plante diesen und legte sich bei einem Schnappschuss auf die Lauer.
5. Die Analogfotografie gibt dem Zufall eine Chance
Egal, ob der Fotograf ein Bild digital oder analog aufzeichnet – der zugrunde liegende Jagdinstinkt ist derselbe. Beim analogen Arbeiten sind jedoch die Sachzwänge intensiver spürbar. Sie haben einen stärkeren Einfluss auf Ihr Bild. Analogfotografie ist vergleichbar mit dem Grillen über offenem Feuer: Es braucht den Einsatz all Ihrer Sinne, wohl wissend, dass es längst Küchengeräte gibt, die Speisen perfekt auf den Punkt garen.
Das analoge Arbeiten lässt unheimlich viele Kombinationen zu, die auch dem Zufall eine Chance geben. Pessimistische Gemüter würden hier sofort mehr Fehlerquellen erkennen. Kreative nutzen Fehler als Chance für das Beschreiten neuer Wege. Es gibt Fotografen, die ihre Filme erst eine Weile unentwickelt lassen, um sich vom emotionalen Ballast zu entledigen, der mit einer Aufnahme einhergeht. Mit einem neutraleren Blick widmen sie sich ihren Filmrollen erst, wenn sie quasi „gut abgehangen“ sind.
6. Das Rotlicht-Vergnügen im analogen Labor
Im Herbst 2020 entschied sich die Berner Schule für Gestaltung, ihr Fotolabor zu räumen, da die alten Entwicklungsmaschinen von Durst und Ilfochrome kaum noch benutzt wurden. Die Studenten fanden sie öde, zu perfekt. Wozu analog arbeiten, wenn das belichtete Fotopapier in einen Schlitz gesteckt und fertig fixiert ausgeworfen wird? Das Abenteuer, das Mystische der Fotografie ist im Zeitalter der Automaten verlorengegangen.
Es ist hingegen ein wunderbares Erlebnis, im Rotlicht eines Schwarzweißlabors zu sehen, wie aus dem Nichts ein Bild hervortritt. Die Berner „Bildroboter“ mussten weichen, um wieder mehr Platz für Laborschalen zu machen, denn die Fotostudenten wollen experimentieren und erkunden, was geschieht, wenn sie gegen Regeln verstoßen. Sie möchten sehen, wie ein Bild entsteht und gegebenenfalls Prozesse vorzeitig abbrechen oder bewusst verlängern. Entdecken auch Sie das Vergnügen der Arbeit im analogen Foto-Labor.
Mysterium Dunkelkammer
Beitrage Teilen