Peter Hamel – Zuglicht

Stimmungsbilder im rasanten Tempo des ICE: Peter Hamels Panorama-Impressionen des Reisens auf Schienen.

Ralf Hanselle Autorenbild

Ralf Hanselle

freier Autor

Bahnlandschaften

Freilichtbühne vor dem Fenster.

Foto: © Peter Hamel

Leiden Sie auch an Siderodromophobie? Das ist die kleine Tochter der Kinetose. Es fängt mit Ermüdung und Erschöpfung an, steigert sich dann zu nervösem Zittern, im Extremfall sogar zu Schweißausbrüchen und Panikattacken. Hinter dem Wörtchen Siderodromophobie verbirgt sich die Angst vor der Eisenbahn, vor Entgleisung, Zugkatastrophen oder auch nur davor, den Fahrschein im rechten Moment nicht griffbereit in der Tasche zu haben.

Eine solche Eisenbahnkrankheit, wie man das früher mal genannt hat, ist gar nicht lustig. Sie hat, so glaubte man lange Zeit, mit den Erschütterungen der Lokomotive zu tun, vielleicht aber auch nur mit den unentwegten Veränderungen in der Optik. Da fliegt im wahrsten Sinne die Landschaft am Bahn-Comfort wie -Non-Comfort- Kunden vorbei – und dieser sitzt wie hilflos hinter der Scheibe und kann kaum verarbeiten, was er da sieht.

Im Schnellzug

Während am Horizont die Landschaft verschwindet, sitzt Peter Hamel im Inneren eines Zuges und hält mit seiner Kamera die Flüchtigkeit der Welt fest. Seine unscharfe Ästhetik folgt dabei der Fotografie des Futurismus.

Foto: © Peter Hamel

Im Bann der Bahn

Der Hamburger Fotograf und Bahn-Fan Peter Hamel, ein Kreativer, der sich schon lange mit dem Thema Fotografie und Bewegung auseinandergesetzt hat, hat aus diesem schnellen Landschaftsflug eine interessante Fotoserie konzipiert: „Bahnlandschaften“, hat der studierte Literaturwissenschaftler diese genannt; eine farbige Landscape-Fotografie, die Peter Hamel aus dem Großraumabteil verschiedenster Nah- und Fernverkehrszüge aufgenommen hat. „Ich war auf dem Weg zu einem Job, habe im Zug gesessen, vor mich hin gedöst, aus dem Fenster geschaut, und plötzlich hat mich eine Stimmung, eine landschaftliche Komposition in den Bann gezogen und in mir die Vorstellung von einem möglichen Bild entfacht. Dem habe ich versucht, mit meiner Canon EOS-1Ds Mark II nahezukommen.“

Landschaft aus dem Zug

Innen und Außen verschwimmen. Während vor dem Fenster die Landschaft in milchigem Nebel verschwindet, scheint für den modernen Reisenden nie ganz ausgemacht zu sein, wer gerade in Bewegung ist: der Betrachter oder das Betrachtete.

Foto: © Peter Hamel

So sind die „Bahnlandschaften“ in gewisser Weise zur bildgewordenen Siderodromophobie geworden. Denn genau so sieht es aus, wenn einem schummrig vor Augen wird. Alles schiebt sich auf diesen Bildern bis zur Unkenntlichkeit am Betrachter vorbei. Wo die Welt gerade noch wohlstrukturiert und geordnet erschienen ist, da verschwimmt sie nun im optischen Nebel.

„Fotografische Bewegungsstudien faszinieren mich, seitdem ich fotografiere.“

Peter Hamel, Fotograf

Doch was diese Serie eigentlich ins Bild setzt, ist natürlich keine Krankheit; Hamel bedient sich hier vielmehr einer Ästhetik, die vor über hundert Jahren von den sogenannten Fotodynamisten des italienischen Futurismus entwickelt worden ist: Es ist eine Fotografie der zeitlichen Unschärfe, der Bewegungsschleier und der auf der Bildoberfläche ausgewalzten Momente. „Fotografische Bewegungsstudien faszinieren mich, seitdem ich fotografiere“, sagt Hamel.

Und so kennt er die Geschichte der Unschärfe natürlich ganz genau. Einst haben die Gebrüder Anton Giulio und Arturo Bragaglia diese fotografische Darstellungsweise entwickelt, um mit ihr den Zauber der Jahrhundertwende abzubilden: das urbane Tempo und die moderne Bewegung auf den Straßen der frühen Mega-Cities.

Im Abendlicht bilden sich aus der Flüchtigkeit erneut Figuren und Formationen. Zuweilen zeigen die Fotografien Peter Hamels klassische Veduten, dann wieder Landschaften und Naturimpressionen.

Foto: © Peter Hamel

Drive-by-Ästhetik

Peter Hamel greift mit seiner über sechs Jahre entstandenen Serie die Technik des Fotodynamismus wieder auf und hält dem Betrachter vor Augen, was andernfalls flüchtig an ihm vorüberflöge. Milchige Brücken und Flußverläufe, Veduten, die verschwimmen wie dünne Wasserfarben auf Aquarellpapier, zuweilen auch nur Restlandschaften, die kurz davor sind, in abstrakten Farbfeldern zu verschwinden oder dicke Regentropfen, die feuchte Schlieren auf einem Zugfenster ziehen. Diese „Drive-by-Ästhetik“ scheint in ihrer Schlichtheit und Profanität zuweilen zu verstören, doch gerade ihre Beiläufigkeit ist es, die sie unvergessen und einzigartig macht: Hamels Kamera sieht die Welt offen und unverstellt. Hier ist nichts inszeniert oder hochgedreht. Die Landschaft erscheint uns, wie sie für den modernen Globetrotter eben ist: flüchtig, unverortet, ja letztlich haltlos.

Das bringt uns zurück zur Weltverlorenheit in der Siderodromophobie – einer Krankheit, die übrigens leicht zu behandeln ist: Man nutzt Techniken der Verhaltenstherapie, mit denen man angstbesetzte Gedankenmuster mit positiven Assoziationen besetzt und neu programmiert. Hamels faszinierende Landschaftsaufnahmen könnten in diesem Sinne geradewegs therapeutische Wirkung entfalten.

Zur Website des Fotokünstlers:
> www.peterhamel.com

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